Eiszeit - (Abgeschlossene Geschichte)


Christine

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EINS Freitag Der Tag, an dem Sonny Crockett sterben sollte, war ein wolkenverhangener, ungemütlicher Dezembertag. Der Wind pfiff zwischen den Häusern durch und schob immer neue Wolken über das Meer heran. Ab und zu fielen ein paar Tropfen, aber Sonnys Stimmung konnte das nicht trüben. Er war frisch verliebt und hatte es geschafft für diesen Abend einen Tisch im beliebten Restaurant BELLEVUE über den Dächern der Stadt zu bekommen.„Das muss mein Glückstag sein,“ murmelte Sonny, als er den Hörer seines Diensttelefons auflegte. Dann rief er Lynn von seinem Handy aus an, um ihr zu sagen, dass er für sieben Uhr einen Tisch im BELLEVUE reserviert hatte.

Um halb sechs verließ Sonny das Präsidium, stieg in seinen feuerroten Ferrari Challenge Stradale, und machte sich auf den Weg zum Jachthafen, wo er seit fünf Wochen auf einem Boot lebte, das WILD SCAMP hieß. Die WILD SCAMP war größer als seinerzeit die St. Vitus Dance, bot mehr Komfort... und sie gehörte Sonny. Im Radio lief ein Oldie, „Kind Of Magic“ von Queen und er grinste, weil er sofort an Lynn denken musste. Er summte die Melodie mit und schenkte den Spiegeln kaum Beachtung. Vielleicht wäre ihm sonst der Porsche aufgefallen, der zwar zwei Wagenlängen Abstand hielt, aber dennoch an ihm dran blieb, bis er den Jachthafen erreichte. Dort wartete der Porsche, während Sonny sich für den Abend frisch machte.Seit drei Wochen waren er und Lynn zusammen. Sie hatten sich, ganz langweilig und unspektakulär, auf einer Geburtstagsparty kennengelernt. Sonny hatte sich fast augenblicklich in die hübsche, schlanke Frau mit den hüftlangen, blonden Haaren und den himmelblauen Augen verliebt. Bei ihr hatte er dieses „Das – ist – die – Richtige – Gefühl“, auch wenn er noch nicht viel über sie wusste. Lynn hatte ihm lediglich erzählt, dass sie erst vor drei Monaten nach Miami gekommen war, weil sie das unbeständige Wetter und die winterliche Kälte im Norden ebenso hasste wie die Hektik und die oftmals schlechte Laune der Menschen. Letzteres schob sie ebenfalls auf das Wetter. Von der Hand weisen ließ sich die Theorie nicht. Sonnys Laune war bei schlechtem Wetter auch oft mieser als bei Sonnenschein. Um zwanzig nach sechs erließ Sonny die WILD SCAMP und fuhr, verfolgt von dem Porsche, zu dem Appartementhaus, in dem Lynn Bendall wohnte. Sie war tatsächlich schon fertig, umarmte und küsste ihn, das er den reservierten Tisch am liebsten vergessen hätte. Er wusste aber, dass Lynn, seit sie nach Miami gekommen war, gern im BELLEVUE essen wollte. – Das war eins der wenigen Dinge, die sie ihm verraten hatte, vermutlich in der Hoffnung, dass es Sonny gelingen könnte eine Reservierung in diesem sehr beliebten Restaurant zu bekommen. Lynn sah an diesem Abend umwerfend aus. Sie hatte sich für ein weißes Kleid entschieden, das durch den breiten Träger, der nur über die rechte Schulter lief, asymmetrisch wirkte. Auf der gleichen Seite hatte sie das Haar mit einer weißen Spange mit Rosenmuster darauf zurückgesteckt.Sonny reichte ihr seinen Arm und sie gingen zu seinem Ferrari hinüber. Er hielt ihr den Wagenschlag auf und schloss die Tür, nachdem sie eingestiegen war. Dann eilte er um den Wagen herum und einen Moment später waren sie unterwegs. Der Porsche folgte ihnen mit ausreichendem Abstand. Während Sonny den Ferrari auf dem Parkplatz für Gäste parkte, hielt der Porsche unweit des Hochhauses, in dem, in der 25. Etage, das Restaurant untergebracht war.Der Porschefahrer stieg aus und betrat fast gleichzeitig mit Sonny und Lynn die Lobby des Gebäudes, in dem auch etliche Firmen ansässig waren. Weder Sonny noch Lynn schenkten dem älteren, grauhaarigen Mann in der dunkelblauen Hose mit dem hellblauen Hemd und dem cremefarbenen Sakko besondere Beachtung, als sie gemeinsam in den Aufzug stiegen. Nachdem der Mann herausgefunden hatte, dass Sonny und Lynn das Restaurant besuchte, kehrte er zu seinem Porsche zurück. Er setzte sich hinter das Steuer und wählte eine Nummer.„Sie sind im BELLEVUE.“ – „Definitiv. Ich bin mir ganz sicher.“ – „Wie Sie wünschen.“Dann legte er auf, stieg aus und verschwand erneut in dem Gebäude.
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ZWEIDas Essen war hervorragend, der Kellner sehr diskret, die Musik im Hintergrund angenehm und leise und die Aussicht einfach bombastisch. Von ihrem Tisch aus konnten sie den Sonnenuntergang beobachten und sehen wie sich die Lichter der Stadt einschalteten. „Wie wäre es, wenn du mir endlich etwas mehr von dir erzählst? ,“ bat Sonny, als die Dessertschalen geleert waren und sie sich gesättigt zurücklehnten. Er hatte ihr diese Frage in den vergangenen drei Wochen mehr als einmal gestellt, aber nie eine wirklich zufriedenstellende Antwort erhalten.Lynn lächelte. „Du würdest vor Langeweile einschlafen,“ erklärte sie auch jetzt.„Aber ich will alles wissen, was mit dir zu tun hat,“ erkläre Sonny. „Immerhin habe ich dir auch alles erzählt was du über mich wissen wolltest.“ Der Kellner näherte sich auf leisen Sohlen. Er erkundigte sich, ob es geschmeckt hatte, ehe er das Geschirr abräumte, nach weiteren Wünschen fragte. Sonny bat ihn um die Rechnung. Der Kellner nickte und entfernte sich so leise wie er gekommen war. „Es gibt nichts interessantes über mich, Sonny,“ behauptete Lynn. „Meine Eltern sind normale Menschen mit normalen Jobs. Ich besuchte eine normale Schule und machte eine Ausbildung. Ich war immer ein braves Mädchen, das seinen Eltern keine Schande bereitete. Ich trieb mich nicht mit Jungs herum, trank nicht und habe nie ausprobiert wie es ist Drogen zu nehmen. Wie du siehst, war ich langweilig. Vor kurzem fasste ich endlich den Mut von einem Ende des Landes zum anderen zu ziehen. Schon als Kind wollte ich gern dort leben, wo die Sonne immer scheint.“Sonny grinste. „Wie du siehst, bin ich immer noch wach, aber ich möchte noch viel mehr über dich wissen.“ Die Rechnung kam. Sonny zahlte und legte ein sehr großzügiges Trinkgeld obendrauf. Vielleicht würde man sich daran erinnern, wenn er das nächste Mal einen Tisch reservieren lassen wollte.Der Kellner wünschte ihnen einen schönen Abend. Dann verließen Sonny und Lynn das Restaurant. Sie passierten einen älteren Mann, der vor dem Restauranteingang stand und sehr interessiert die Fotografien betrachtete, auf denen die unterschiedlichsten Persönlichkeiten zu sehen waren, die bereits das BELLEVUE besuchten: Gianni Versace, Tina Turner, Placido Domingo und der Filmproduzent Michael Mann waren einige davon. Nachdem Sonny und Lynn um die Ecke zu den Aufzügen verschwunden waren, zog der Mann sein Handy aus der Jackentasche, sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war, der etwas hören konnte, und sagte: „Sie kommen!“ In einem schwarzen Wagen, der unweit des Eingangs stand, drückte der Beifahrer das Gespräch weg, ehe er wortlos ins Handschuhfach griff. Er holte eine halbautomatische Waffe heraus und entsicherte sie. Das laute, metallische Klicken durchbrach die Stille. Automatisch ließen der Fahrer und der Beifahrer die Blicke herumschweifen, aber wer unterwegs war, hatte es sehr eilig und rannte mit gesenktem Kopf die Straße entlang, denn gerade ging eine heftige Schauer nieder. Der Regen prasselte einem Trommelwirbel gleich auf das Autodach. Der Fahrer hatte eine andere Wahl, als die Scheibenwischer einzuschalten, wenn sie Crockett und dessen Begleitung nicht verpassen wollten. Sonny und Lynn verließen das Gebäude. „Und ich dachte, man nennt Florida den Sonnenscheinstaat, weil hier immer die Sonne scheint,“ frozzelte Lynn.Meistens scheint die Sonne,“ entgegnete Sonny. „Du kannst hier warten, während ich den Wagen hole!“Lynn lachte. „Sehe ich aus, als wäre ich aus Zucker?“Sonnys Blick wanderte an ihr hinauf und wieder hinunter. „Auf jeden Fall siehst du zum anbeißen aus, aber ich wage zu bezweifeln, dass man in diesen Schuhen rennen kann!“Kurzerhand zog Lynn die High Heels aus. „Jetzt kann ich rennen! ,“ sagte sie.Sonny grinste. Er fasste Lynn am Arm und sie rannten geduckt Richtung Parkplatz, der sich etwas weiter rechts auf der anderen Straßenseite befand. Plötzlich stolperte Lynn gegen Sonnys linken Arm. Sie stöhnte auf, krallte sich in seinen Oberarm. Er dachte, sie wäre vielleicht ausgerutscht, auf einen Stein getreten oder so etwas. Automatisch griff er unter ihren Arm, um sie besser stützen zu können. Im gleichen Moment schlug ihr Kopf gegen seinen Oberarm, spritzten ihm Blut und Hirnmasse ins Gesicht, ein Knochensplitter traf ihn unterhalb des linken Auges und ein scharfer Schmerz schoss durch seine linke Kopfseite. Lynn sackte zusammen und Sonny spürte einen Schlag gegen die linke Schulter, dann gegen den Hals. Der brennende Schmerz raubte ihm für einen Moment den Atem. Lynn entglitt seiner plötzlich gefühllosen Hand. Er sah sie auf den nassen Asphalt stürzen. Ihre rechte Wange schlug hart auf, wurde kurz hochgeworfen und blieb dann auf dem Boden liegen. Er registrierte, dass Lynns linke Gesichtshälfte nur mehr eine blutige Masse war, konnte aber nicht begreifen, was er sah. Ihm blieb auch keine Zeit, um darüber nachzudenken. Sonny fühlte das warme Blut, das von seinem Ohr den Hals hinunterlief und sich auf seinem Hemd mit dem Blut vermischte, das aus der Halswunde lief. Er bemerkte den schwarzen Wagen, der mit quietschenden Reifen an ihm vorbeiraste, als seine Knie nachgaben. Für einen Moment blickte er in ein hageres Gesicht mit etwas zu langen, schwarzen Haaren und einem gepflegten Vollbart. Maestro! Der Mann hob eine Waffe, die er auf Sonny richtete. Es machte nur dezent. „Plopp!“ Sonny spürte einen Schlag gegen die Brust. Dann wurde es dunkel um ihn herum. Sonny Crockett spürte nicht mehr, wie er auf dem Boden aufschlug.
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DREI„Gehen wir,“ sagte Stan Switek mit bewegter Stimme. Er trug einen schwarzen Anzug und eine schwarze Krawatte ...- ein ungewohnter Anblick. Gina hatte sich für einen schwarzen Hosenanzug entschieden, Trudy für ein enges, schwarzes Kleid.Wie immer, wenn ein Kollege zu Grabe getragen wurde, fuhren sie zusammen zur Beerdigung. „Ben und ich bleiben hier,“ hatte Damian Parson tags zuvor gesagt, als darüber geredet wurde, wer im Büro blieb. Irgendjemand musste schließlich die Stellung halten, denn der Polizeialltag blieb nicht stehen, nur weil ein Kollege gestorben war. „Wir kannten ihn nicht so lange wie ihr.“

Das Vice – Team machte sich auf den Weg zur Leichenhalle, wo der Tote aufgebahrt worden war. Die Stimmung war sehr gedrückt und niemand sprach.Die Tür zur Leichenhalle quietschte leise, als Stan sie aufdrückte und etliche Blicke wandten sich ihnen zu. Die Familie, Freunde und weitere Kollegen waren gekommen, um dem jungen Kollegen, der vor einer Woche bei einem missglückten Undercover – Einsatz ums Leben gekommen war, die letzte Ehre zu erweisen. Billy hörte kaum zu. Er dachte an seinen Vater, der am gleichen Tag durch Schüsse vor dem BELLEVUE schwer verletzt worden war. Ein Schuss hatte ihn oberhalb des rechten Ohres gestreift, eine Kugel verletzte eine Ader am Hals und die letzte hätte ihn sicherlich getötet, hätte Sonny nicht aus einem Grund, den er selbst nicht kannte, seine Dienstmarke in die Brusttasche seines Jacketts gesteckt. Die Kugel war darin steckengeblieben und hatte lediglich eine Prellung verursacht. Sonny wäre sicherlich dennoch an der Halsverletzung gestorben, wäre nicht zufällig ein Arzt zur Stelle gewesen, der, wie Sonny und Lynn, im BELLEVUE gegessen hatte und sich gerade auf dem Heimweg befand.Er und seine Frau verließen gerade das Gebäude, als Sonny neben der am Boden liegenden Lynn zusammenbrach und sich ein schwarzer Wagen mit quietschenden Reifen entfernte. Das Nummernschild hatten sich natürlich weder der Arzt noch dessen Frau eingeprägt. Beide waren sofort zu den am Boden liegenden Personen gelaufen, um zu helfen, aber Lynn war tot gewesen. Ein Schuss hatte ihr die halbe Schädeldecke weggerissen, ein anderer war unter dem linken Arm eingedrungen, hatte eine Rippe zerschlagen und war in der Lunge stecken geblieben. Lynn hatte nicht die geringste Chance gehabt. Sonny packte gerade seine Sachen zusammen. Man hatte die Halswunde geschlossen und den Streifschuss über dem Ohr verbunden. Die Prellung an der Brust schmerzte manchmal, vor allem beim Husten oder Lachen, aber das war zu ertragen, der Schmerz über Lynns Tod war wesentlich schlimmer. „Die Narbe wird kaum zu sehen sein,“ hatte der Arzt begeistert gesagt, als er die Abschlussuntersuchung durchführte. Sonny hatte nichts gesagt. Die Narben interessierten ihn nicht wirklich, denn seine Gedanken drehten sich unaufhörlich um jene Sekunden, in denen Lynn starb.Sobald er die Augen schloss, sah er wieder deutlich vor sich, wie sie aus dem Gebäude gelaufen waren und wie Lynn plötzlich gegen ihn fiel. Ihr Blut hatte ihn getroffen, sich mit seinem vermischt. Ein schwarzer Wagen war davongerast, aber Sonny hätte nicht sagen können welche Marke es gewesen war. Alles war viel zu schnell gegangen und zu überraschend gewesen. Maestros Gesicht, in das er kurz vor dem letzten Schuss auf ihn blickte, hatte sich jedoch unauslöschlich in sein Gedächtnis eingegraben. Er hatte am nächsten Tag mittags, als er wieder richtig wach war, sofort erklärt, dass Maestro höchstpersönlich auf ihn und Lynn geschossen hatte. Die Rache eines Drogenbosses, der beinah überführt worden wäre.Lynn hatte jedoch mit der ganzen Sache eigentlich gar nichts zu tun gehabt. Dennoch hatte Maestro sie kaltblütig umgebracht und dafür würde er bezahlen. Während der sieben Tage, die Sonny im Krankenhaus bleiben musste, drehten sich seine Gedanken unaufhörlich um Lynn, Maestro und wie er den Dreckskerl überführen konnte. Und als er seine Sachen in die braune Ledertasche packte, stand für ihn fest, dass er sich nicht, wie eigentlich vom Arzt verordnet, noch ein paar freie Tage gönnen würde. Wenig später kam Billy. Er hatte den schwarzen Anzug gegen Jeans und ein weißes T – Shirt eingetauscht und trug ein lindgrünes Jackett, um das Schulterholster zu verbergen.„Hi, Dad,“ sagte er aufmunternd lächelnd. „Schon alles gepackt?“Sonny nickte. Manchmal, so wie jetzt auch, hörte er noch ein Pfeifen und Piepen in seinem Ohr. Man hätte meinen können, dass irgendwo in seinem Kopf ein winziges Kerlchen saß und Morsezeichen gab. Sonny bemühte sich das Geräusch zu ignorieren, zumal der Arzt behauptet hatte, das Geräusch würde sicherlich von selber verschwinden.Er schnappte sich die dunkelbraune Ledertasche. „Gehen wir.“ „Was sagen die Ermittlungen? ,“fragte Sonny unterwegs. „Und erzähl mir jetzt nicht, dass du mir nichts darüber sagen darfst! Ich will wissen, wer Lynn getötet hat und warum. Wenn du mir keine Informationen gibst, komme ich eben ins Büro und hole sie mir selber.“Billy holte tief Luft. Er wusste nur zu gut, dass sein Vater es ernst meinte. Sonny würde nicht einfach auf dem Boot herumsitzen und darauf warten, dass der Arzt ihm wieder erlaubte zu arbeiten. Er würde, wenn auch nur aus der Ferne, über alles Bescheid wissen wollen.„Die Kugeln stammen aus einer halbautomatischen Waffe, die bereits bei dem missglückten Deal im August benutzt worden ist.“ Sonny nickte. Er erinnerte sich sehr gut an die Geschichte. Am 1. August war er zurück nach Miami gezogen, um zusammen mit Stan die Leitung des neuen Vice – Departments zu übernehmen. Das Ding hieß „Zusammenlegung verschiedener Departments zur Verringerung der Kosten“. Der missglückte Drogendeal war der erste gemeinsame Fall gewesen. An jenem Abend hatten sie eigentlich gehofft Maestro, einem großen Drogenboss, näher zu kommen. Wie alle großen Drogenbosse war Maestro sehr vorsichtig und tarnte seine Drogengeschäfte gut. Was auch immer die Polizei bisher versuchte, sie konnte ihm nie etwas nachweisen. Seine Leute galten als absolut loyal und Gerüchte besagten, dass Maestro niemals jemanden hängen ließ, der den Kopf für ihn hingehalten hatte, sondern großzügig für ihn und seine Familie sorgte. An jenem Abend war alles schief gelaufen. Sonny, der im neuen Vice – Department den Bereich Jugend – und Bandenkriminalität leitete, war telefonisch von einem Jugendamtsmitarbeiter aufgehalten worden und deshalb zu spät zum Treffpunkt gekommen. Alles, was er vorgefunden hatte, waren die vier Leichen einer spanischen Touristenfamilie und ein schwer verletzter, junger Undercover – Beamter, der in seinen Armen starb. Spät am Abend hatte ihn Georgio, Ricostas Verbindungsmann angerufen und erklärt: „Maestro hat beschlossen keine Geschäfte mit Ihnen zu machen, Mr. Burnett... – oder ist es Ihnen lieber, wenn ich Sie Lieutenant Crockett nenne?“Ehe Sonny antworten konnte, hatte Georgio aufgelegt und seitdem hörten sie nichts mehr von „Maestro“. „Diese Waffe...“ Billy zögerte. Er hielt an einer roten Ampel neben einem schneeweißen Cabrio, in dem drei wirklich sehr hübsche, leicht bekleidete Mädels saßen, die ihn ebenfalls sehr interessiert musterten.Sonny warf ihm einen fragenden Seitenblick zu. „Ja? ,“hakte er nach und stieß Billy unsanft an, um seine Aufmerksamkeit zurück zu gewinnen. „Du kannst ein anderes Mal mit den Mädels schäkern oder gib mir eine Visitenkarte. Ich werfe sie rüber und sie können dich anrufen.“ Billy seufzte tief. Er starrte geradeaus und war sicher, dass Stan ihm wahrscheinlich den Kopf abreißen würde, wenn er herausfand, dass er seinem Vater alles erzählt hatte. Andrerseits kannte Stan Sonny lange genug, um zu wissen, dass Sonny all diese Dinge auch selber herausgefunden hätte. Er wollte Lynns Mörder dingfest machen und er würde nicht ruhen, bis er sein Ziel erreichte. Deshalb gestand er: „Sie wurde vor drei Tagen bei drei Morden im Drogenmilieu in New York verwendet. Maestro, falls du wirklich ihn gesehen hast, dürfte die Stadt also längst verlassen haben.“ Sonny sagte nichts. Er ließ sich von Billy im Jachthafen absetzen und blickte seinem Sohn nach, als dieser in seinem silbernen Porsche davonfuhr. Die Informationen kreisten in seinem Kopf herum. Sonny war sich sicher, dass Maestro, der große Drogenboss, persönlich dahintersteckte. Er hatte ihn gesehen, wenn auch nur kurz. Da Maestro wusste, dass Sonny Polizist war, konnte es sich nur um einen Racheakt handeln. Er hatte Lynn getötet, weil sie in seiner Schusslinie stand und ihm die Sicht auf das eigentliche Ziel – Sonny – versperrte. Sonny blickte kurz zum Himmel auf, wo die Möwen kreischend ihre Kreise zogen. Manchmal stießen sie auf das Wasser hinunter, um mit einer Beute wieder aufzusteigen, manchmal hatten sie auch Pech. Einige weiße Wolken zogen über den blauen Himmel.In diesem Moment war Sonny klar, was er zu tun hatte.
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VIERSonny rief am Flughafen an und erfuhr, dass in drei Stunden ein Flieger nach New York abhob, in dem es noch freie Plätze gab. Mit dem zweiten Anruf reservierte er sich ein Zimmer in einem Hotel, und während er seine Tasche auspackte, versuchte er Tubbs anzurufen. Der Freund ging aber nicht an sein Handy und war auch auf dem Festnetz nicht zu erreichen. Mit dem Hörer am Ohr griff Sonny nach dem großen Badetuch in seiner Reisetasche. Es hing jedoch irgendwo in der Tasche fest. Da er nur eine Hand frei hatte, schüttelte er das Badetuch und somit die ganze Tasche, bis sich das Badetuch löste. Die Tasche knallte auf den Boden. Es schepperte leise und ihm fiel ein, dass irgendwo ganz unten sein Wecker gelegen hatte.Im gleichen Moment sprang Ricos Anrufbeantworter an. „Hallo, ich bin zurzeit gerade nicht zu Hause. Wenn Sie jedoch...“„Ja, du mich auch,“ knurrte Sonny wütend, legte auf und warf das Handy auf sein Bett, um sich den Wecker anzusehen. Er war eindeutig hinüber. Eine Stunde später erreichte Sonny den Flughafen, zwei weitere Stunden später saß er im Flugzeug nach New York. Er hatte etliche Male versucht Rico anzurufen, aber sein alter Freund war nicht zu Hause und ging nicht ans Handy. Während des Fluges dachte Sonny immer wieder an den Kerl mit den etwas zu langen Haaren und dem kurzen, gepflegten Vollbart, dem er für den Bruchteil einer Sekunde ins Gesicht starrte, als der schwarze Wagen an ihm vorbei schoss. Maestros Gesicht! Er würde seinen wahren Namen herausfinden, ihn aufspüren und dann sollte er für Lynns Tod bezahlen“ Es war gut möglich, dass dies sein letzter Job als Polizist war, denn er war noch krank geschrieben, handelte absolut eigenmächtig und er konnte nicht versprechen, dass er sich an die Buchstaben des Gesetzes halten würde, wenn er Maestro gegenüberstand. Sonny dachte an Rico, der vor langer Zeit einem anderen Gangster in die entgegengesetzte Richtung nach Miami gefolgt war, eigenmächtig, mit Taschen voller Falschgeld und den Namen seines ermordeten Bruders benutzend. Als Sonny in New York aus dem Flugzeug stieg, empfing ihn Eiseskälte. Alles schien erstarrt zu sein. Sonny fror. In seiner Eile hatte er überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass die Winter in New York vollkommen anders waren als die Winter im Süden. Er hatte mehrere Jacketts eingepackt, aber etwas, dass gegen diese Kälte half, gab es in seinem Kleiderschrank überhaupt nicht. Wenig später saß Sonny in einem Taxi und ließ sich zu seinem Hotel fahren. Wieder versuchte er Tubbs anzurufen, aber es gelang ihm erst den Freund ans Handy zu bekommen, nachdem er bereits im Hotel eingecheckt hatte.„Verdammt, Tubbs, wo steckst du? ,“fragte Sonny. „ Ich glaube, ich kriege schneller ´ne Audienz beim Papst als dich ans Telefon.“„Das will ich sehen,“ antwortete Rico kichernd. „Was gibt es denn so dringendes?“Sonny sank in den dunkelblau – gemusterten, kleinen Sessel, der neben dem Fenster stand. Inzwischen hatte es angefangen zu schneien. Hübsche, kleine Schneeflocken tanzten lustig vom Himmel herab. Es sah wirklich sehr nett aus. „Was soll ich sagen? Ich sitze in einem Hotelzimmer in New York und würde den Abend gern mit meinem alten Freund verbringen.“ Einen Moment lang war es so still in der Leitung, dass Sonny dachte, Rico hätte vor Schreck den Hörer aufgelegt, aber dann hörte er die Stimme seines Freundes wieder so klar, als stünde Rico neben ihm. „Du bist in New York? Was treibt einen Südstaatler und Sonnenanbeter wie dich mitten im tiefsten Winter nach New York?“Sonny blickte aus dem Fenster. Es machte beinah Spaß die kleinen Flocken zu beobachten, die leise herabsanken und sofort schmolzen, sobald sie den Boden berührten. Allerdings senkte sich die Dunkelheit bereits auf die Stadt herab. Sonny stand auf, um die Lampe einzuschalten. Warmes Licht flutete den Raum mit den dunklen, gediegen wirkenden Möbeln.„Könnten wir das nicht bei einem netten Abendessen besprechen, Tubbs?“„Das würde ich gern tun, aber ich bin vorgestern mit Alaina und Dylan nach L. A. geflogen und komme erst in einer Woche wieder.“„Oh, verdammt! ,“entfuhr es Sonny.„Was ist passiert, Crockett? ,“ wollte Rico wissen. Er kannte seinen alten Freund gut genug um zu wissen, dass Sonny nicht einfach aus einer Laune heraus in ein Flugzeug stieg. Im Grunde genommen hatte Sonny nicht besonders viel fürs Fliegen übrig und er tat es nur, wenn er keine andere Wahl hatte. Es musste also etwas passiert sein. Mit wenigen Worten erzählte Sonny ihm von den Schüssen vor dem BELLEVUE – Restaurant und was das Vice – Team über die Waffe herausgefunden hatte. Rico unterbrach ihn kein einziges Mal. Erst als Sonny geendet hatte sagte er: „Ich kann dir momentan nicht behilflich sein und es tut mir wirklich leid. - Wende dich an Tanya Murphy. Richte ihr schöne Grüße von mir aus und sag ihr, du wärst der Freund mit dem verrückten Alligator. Sie weiß dann Bescheid und wird dir helfen.“ Nachdem Sonny das Gespräch weggedrückt hatte, stand er da, hielt das Handy in der Hand und starrte hinaus in das Schneetreiben. „Der Freund mit dem verrückten Alligator,“ murmelte er dann, ehe er das Mobiltelefon auf den kleinen, runden Tisch legte, der unter dem Fenster stand. „Na, die Dame wird ja einen netten Eindruck von den Leuten im Süden und besonders von mir haben!“Aber zumindest hatte er jetzt den Namen einer Person, an die er sich morgen früh wenden konnte. Er nahm eine heiße Dusche und spürte die wachsende Müdigkeit. Im Krankenhaus hatte er nur sehr schlecht schlafen können. Die Schmerzen, die permanenten Kontrollen des Pflegepersonals und natürlich seine sich ständig im Kreis drehenden Gedanken hatten ihn vom Schlafen abgehalten. Sonny sank ins Bett. Jetzt war er in New York, dort, wo der Mörder sich vor ihm zu verbergen versuchte. Der Kerl hatte keine Ahnung, dass Sonny noch lebte, dass er sich an das Gesicht des Mörders erinnerte, und dass er ihm auf der Spur war... - und er würde ihn finden, ganz egal, wie lange es dauerte! Und wenn es das Letzte war, was er tat!Gleich morgen würde er zu Tanya Murphy gehen. Vielleicht hatte er Glück und in einigen Tagen war bereits schon alles vorbei.Aber Sonny irrte sich
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FÜNFSonny erwachte frisch und munter. Er hatte tief und fest geschlafen und nicht einen Albtraum gehabt. Die Narbe an seinem Hals zwickte zwar etwas, als er aufstand, aber das konnte seinen Tatendrang nicht bremsen.Als erstes schaltete er das Radio ein und hörte den Moderator beinah enthusiastisch den Hörern einen guten Morgen wünschen. „Ich hoffe, es geht Ihnen gut an diesem klirrend kalten Dezembermorgen. Das Außenthermometer zeigt 30 Grad (-1 Grad Celsius). Im Moment ist der Himmel nur bleigrau und spuckt wenige Schneeflocken aus, aber so wird es nicht bleiben, stimmt´s, Ewan?“Eine andere Stimme war nun zu hören. „Nein, Ben. Ein Tiefdruckgebiet zieht heran und es bringt massive Schneefälle und einen gigantischen Temperatursturz auf etwa drei bis acht Grad ( - 16 bis –13 Grad Celsius.) Es wird glatt, Leute, und wenn mich heute jemand fragt, ob wir weiße Weihnachten bekommen, dann bin ich wirklich geneigt ja zu sagen!“

Sonny eilte ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Der Himmel, der sich über New York spannte, war tatsächlich bleigrau. Leise rieselten weitere Schneeflocken heraus. Die Straße vor dem Hotel war bereits weiß, aber noch schien der Schnee den Straßenverkehr nicht zu beeinträchtigen.„Großartig,“ brummte Sonny missgestimmt. Er war noch nie im Schnee Auto gefahren. Sonny ging in den Speisesaal hinunter, wo an der linken Seite ein üppiges Buffet aufgebaut war. Rechts standen Tische mit zwei, vier oder auch sechs Stühlen drum herum. Weiße Decken lagen darauf. In der Mitte eines jeden Tisches befand sich ein kleiner Topf mit rosafarbenen Röschen darin, außerdem einem Salz – und Pfefferstreuer, sowie einer kleinen Karaffe mit Essig und Öl aus Edelstahl.Etliche Tische waren besetzt, einige Gäste wanderten mit ihren Tellern am Buffet entlang. Sie unterhielten sich leise und Sonny hörte verschiedene Sprachen heraus.Sonny fand einen kleinen freien Tisch mit zwei Stühlen. Er hängte sein rosa – grau gestreiftes Sakko über die Lehne, ehe er sich am Buffet bediente. Nach dem Frühstück hielt er Ausschau nach einem Taxi und bat den Fahrer ihn zu einer Autovermietung zu bringen.„Wo kann man denn hier günstig einen Wintermantel kaufen? ,“wollte Sonny wissen.Der Fahrer warf einen Blick in den Spiegel. Er grinste. „Erzählen Sie mir nicht, Sie sind im Winter nach New York gekommen und haben Ihren Wintermantel vergessen!“„Bei uns im Süden gibt es keine solchen Winter,“ entgegnete Sonny nur. Zehn Minuten später hielt der Taxifahrer vor einem Geschäft. „Ich kaufe meine Sachen immer hier. Sie sind preiswert und haltbar.“„Warten Sie hier! ,“ bat Sonny und stieg aus.Ein Mann, der gerade die neben dem Geschäft liegende Reinigung verließ, blieb stehen und starrte Sonny an. Dann folge er ihm spontan in das Geschäft, um sich scheinbar für einige Winterjacken zu interessieren, die auf einer Kleiderstange hingen. In Wirklichkeit aber wanderte sein Blick immer wieder zu Sonny hinüber, der gerade einen hellbeigen Wintermantel anprobierte. Ohne etwas zu kaufen verließ der Mann schnell den Laden. Er rannte so schnell die Straßenverhältnisse es zuließen zu seinem Wagen, der einen halben Block entfernt auf einem Seitenstreifen parkte.Er sprang in das Fahrzeug, fuhr zum Ausgangspunkt zurück und stellte erleichtert fest, dass das Taxi, aus dem Crockett gestiegen war, noch an seinem Platz stand.Er nahm sein Handy, wählte eine Nummer und sagte: „Sie werden es nicht glauben, aber ich stehe gerade hinter einem Taxi, mit dem Sonny Crockett zu einem Geschäft gefahren ist, um sich einzukleiden.“ – „Es ist Crockett! Ich bin ihm in den Laden gefolgt. Was soll ich jetzt machen?“ – „In Ordnung.“Er legte auf und wartete auf Sonny, der nicht die geringste Ahnung hatte, dass der Feind längst über seine Ankunft informiert war. Nachdem er auch noch ein Paar warme Stiefel erstanden hatte, ließ Sonny sich zu einer Autovermietung fahren, mietete einen Jeep und fuhr zum Präsidium. Dort fragte er nach Tanya Murphy und wurde in die sechste Etage hinaufgeschickt, zu Zimmer 629. Tanya Murphy saß an ihrem Schreibtisch und bearbeitete die Informationen, die sie zu ihrem derzeitigen Fall erhalten hatte, als Sonny eintrat. Er sah das Namensschild auf ihrem Schreibtisch und steuerte sofort auf sie zu.„Guten Morgen,“ sagte er. „ Schöne Grüße von Lieutenant Tubbs. Ich bin Lieutenant Sonny Crockett von Miami Vice... – der, mit dem verrückten Alligator.“Tanya Murphy sah auf und ihre grau – blauen Augen in dem schmalen Gesicht blitzten vergnügt, als sie Sonny musterte. „Soso,“ sagte sie. „Der Besitzer des Alligators mit der rosa Lieblingsdecke.“ Schmunzelnd wies sie auf einen Stuhl. „Bitte, setzen Sie sich doch. Lieutenant Tubbs ist leider nicht da.“Sonny ließ sich auf dem angebotenen Stuhl nieder. „Ja, ich weiß. Ich habe gestern nach meiner Ankunft mit ihm telefoniert. Er sagte, ich soll mich an Sie wenden, wenn ich Hilfe brauche.“ Zehn Minuten später hatte er Tanya erzählt, was geschehen war, auch im August, als der Einsatz schief ging, und sie hatte sich den Bericht der Ballistiker und das Phantombild besorgt, das Sonny in Miami hatte anfertigen lassen. Tanya starrte das Foto an. „Den habe ich schon mal gesehen,“ behauptete sie. „Wenn ich nur wüsste wo!“„Er nennt sich Maestro,“ erklärte Sonny. „Vice ist seit geraumer Zeit an ihm dran, weil er in große Drogengeschäfte verwickelt ist, aber der Kerl ist schlau. Im August ging ein geplanter Deal schief. Fünf Leute starben und ich erhielt abends einen Anruf von Maestros rechter Hand, Giorgio, der genau wusste, wer ich bin.“„Anscheinend bearbeiten wir beide Fälle, die miteinander zu tun haben,“ seufzte Tanya. „Der Fall, der zu Ihrem Fall passt, liegt nämlich auf meinem Schreibtisch. Ein Drogengeschäft, aber irgendwas ging schief. Wir fanden drei Leichen, verstreutes Kokain auch über den Leichen und einige herumliegende Geldscheine. Sah aus als hätte es Streit gegeben, wahrscheinlich über die Reinheit des Kokains, die nicht so hoch war wie vorher vereinbart. – Sind Sie eigentlich offiziell hier, Lieutenant Crockett?“Wieder blickte sie ihn an. Ihre kastanienbraunen, schulterlangen Locken leuchteten im Licht der eingeschalteten Lampe wie Kupfer.„Nein,“ gestand Sonny. Sie hätte die Wahrheit ohnehin mit einem einzigen Anruf herausfinden können. Außerdem wollte er sie nicht belügen und ihr auf diese Weise Ärger bereiten. Ihm zu helfen konnte durchaus mit beruflichen Konsequenzen enden. Sie sollte wissen, worauf sie sich einließ, wenn sie ihn unterstützte. „Eigentlich bin ich noch krank geschrieben.“ Tanya dachte einen Moment lang nach und entschied dann, dass sie Sonny helfen würde. Rico Tubbs war ihr Boss, Sonny Crockett sein bester Freund und außerdem mochte sie den Mann. Es tat ihr leid, dass er wegen dieses Drogenbosses seine Freundin verloren hatte.„OK, ich helfe Ihnen so gut ich kann, solange es nicht bedeutet, dass ich am Ende ohne Job da stehe.“Sonny lächelte sie gewinnend an. „Wenn das eintritt, dann kommen Sie nach Miami. Ewiger Sommer, Sonne, Strand, Meer... – und gute Polizisten können wir immer gebrauchen.“Tanya lachte, warf einen Blick hinaus auf das Schneetreiben und erwiderte: „Das klingt wirklich verlockend!“Sonny gab ihr seine Handynummer und verließ das Präsidium. Als er sich in den fließenden Verkehr einfädelte, folgte ihm ein schwarzer Range Rover.
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  • 2 weeks later...
SECHSSonny kehrte ins Hotel zurück. Inzwischen schneite es stärker, der Himmel hatte sich von bleigrau in ein sehr bedrohliches anthrazitgrau verwandelt und das Fahren war anstrengend, weil der wirbelnde Schnee in den Augen schmerzte. Drei Mal geriet der Jeep bedrohlich ins Rutschen, wobei er einmal einem anderen Auto sehr nahe kam, die beiden anderen Male einer Straßenlaterne. Irgendwann zwischendurch klingelte sein Handy. Es brummte und vibrierte in seiner Tasche herum, aber er hatte jetzt beim besten Willen keine Zeit zu telefonieren. Kurz bevor er das Hotel erreichte, meldete es sich zum zweiten Mal, aber Sonny ignorierte es auch jetzt. Er stellte den Jeep vor dem Hotel ab, eilte in das warme Gebäude und fuhr mit dem Lift nach oben in die zehnte Etage, wo er Zimmer 1011 bewohnte. Gerade, als er die Tür mit der Magnetkarte öffnete, meldete sich das Handy wieder. Er schob die Tür auf, griff mit der freien Hand in seine Tasche und beförderte das Handy heraus. Die Nummer auf dem Display gehörte Billy.„Hallo, Billy“, sagte er, als er die Tür schloss. „Was gibt´s?“„Was es gibt?“, wiederholte Billy ungläubig. „Machst du Witze, Dad? Du bist verschwunden! Das gibt es!“Sonny schaltete das Licht an und blickte automatisch aus dem Fenster. Der Schnee fiel einem Vorhang gleich. Das Gebäude auf der anderen Straßenseite konnte Sonny längst nicht mehr sehen.„Ich bin nicht verschwunden“, widersprach Sonny, wobei er versuchte sich aus dem Wintermantel zu schälen, was gar nicht so einfach war. „Ich bin in New York.“ Einen Moment lang war es so still in der Leitung, dass Sonny glaubte der starke Schneefall hätte vielleicht die Verbindung gestört. Dann aber fragte Billy: „In New York? Was, zum Teufel, machst du in New York?“Mit einem Blick aus dem Fenster erwiderte Sonny trocken: „Schneeflocken zählen.“Billy sog ungläubig die Luft ein. „Jetzt lass mal den Scheiß, Dad. Ich meine es verdammt ernst! Du wurdest gestern erst aus dem Krankenhaus entlassen....“Mir ist es auch verdammt ernst, Billy. Die Spur führt nach New York und deshalb bin ich hier. Ich melde mich wieder, sobald es Neuigkeiten gibt.“Sonny legte einfach auf. Er hatte absolut keine Lust sich vor seinem Sohn zu rechtfertigen. Er wusste, dass es nur einen Weg gab, um Lynns Mörder zu finden und genau diesen Weg hatte er eingeschlagen. Während er sich ein Mittagessen im Hotelrestaurant gönnte, dachte Sonny an den letzten Abend mit Lynn im BELLEVUE. Er war wirklich glücklich gewesen und fest davon überzeugt, dass Lynn die Richtige war.Gerade, als er den Teller zur Mitte schob, klingelte sein Handy. Am anderen Ende war Tanya. Ohne lange Vorrede sagte sie: „Ich hole Sie um neun heute Abend ab. Seien Sie fertig!“„Wohin geht´s?“Club Delirious. Bis dann!“ Tanya legte auf und Sonny musste plötzlich an einen Auftrag denken, der weit zurücklag. Auch damals hatte ihn und Rico der Weg nach New York geführt... – allerdings war das Wetter bedeutend besser gewesen, die miesen Typen jedoch nicht. Im Club Delirious hatte er damals Margret getroffen, die ihm, als er schlief, die Dienstwaffe geklaut hatte. Um halb neun betrat Sonny die Hotellobby, Tanya kam wenige Minuten später. Schnee glitzerte in ihren Haaren und auf ihrer Jacke und als sie den Kopf schüttelte, flogen einige Wassertropfen herum. „Wenn das nicht bald aufhört zu schneien, geht in ein, zwei Tagen nichts mehr“, prophezeite sie, lächelte Sonny an und fragte: „Fertig?“Sonny nickte. Sie brauchten über eine halbe Stunde, um den Club Delirious zu erreichen, aber die rotierenden Lichter der Schneeräumfahrzeuge, die ihnen entgegenkamen und einmal vor ihnen herfuhren, machten zumindest deutlich, dass man alles versuchte, um Herr der Lage zu bleiben.Unterwegs erklärte Tanya, dass ein Informant, Paulie, sich sehr oft im Club Delirious aufhielt. Paulie wusste immer über alles Bescheid, was in der Stadt so los war und Tanya wollte ihn nach Georgio Mendes befragen.Keiner von beiden bemerkte den Wagen, der ihnen in gebührendem Abstand folgte. Die Bar des Club Delirious war gut besucht. Sonny sah sich um. Früher, so glaubte er sich zu erinnern, war sie in blauen Tönen gehalten gewesen, jetzt war man zu Dschungelfarben übergegangen: grün, orange und gelb.„Da ist er“, sagte Tanya und deutete auf einen Mann, der in einer Ecke saß, von wo aus er den ganzen Raum im Blick hatte.Paulie mochte Anfang bis Mitte dreißig sein. Er war drahtig, nicht besonders groß, besaß wache, braune Augen und eine Frisur, die ein bisschen an Art Garfunkel erinnerte... – oder an einen explodierten Fön. Als er Tanya und Sonny sah, grinste er, wobei er ziemlich schlechte Zähne bleckte. „Tanya Murphy, was für eine Überraschung“, sagte er, wobei seine Augen an Sonny hinauf und hinunter wanderten. „Ihr neuer Freund, nehme ich an.“Sonny und Tanya ließen sich an seinem Tisch nieder, aber keiner von beiden beantwortete Paulies Frage. Stattdessen fragte Tanya: „Was sagen Ihnen die Namen Manuel Ricosta und Georgio Mendes?“Paulie rutschte unruhig hin und her, sein Blick schweifte hektisch herum und blieb an einer Gruppe Gäste hängen, die gerade hereinkamen.Sonny wandte sich kurz um, schenkte dann aber Paulie wieder seine ungeteilte Aufmerksamkeit. „Also?“Paulie sah ihn an. „Diese beiden Namen stehen für sehr viele Unannehmlichkeiten, Mr.“, erklärte er.„Ich will nur wissen, wo ich den einen oder den anderen finden kann“, meinte Sonny.Paulie grinste, was ihm das Aussehen eines Windhundes verlieh. „Versuchen Sie ins Koksgeschäft einzusteigen und versprechen Sie den Leuten besseres Zeug für weniger Geld und die finden Sie!“„Ich meine es ernst, Paulie“, sagte Sonny eindringlich.Paulie nickte. „Ich auch.“Tanya fasste den Mann am Arm. Sie blickte ihm direkt in die Augen und sagte sanft: „Paulie, ich habe da noch was auf meinem Schreibtisch liegen. Sie wissen schon...“Das Grinsen verschwand, Paulie schluckte. „Schon gut, Ms. Murphy. Ich werde sehen, was ich tun kann, um Ihnen eine Adresse zu beschaffen.“Tanya wischte über Paulies Arm, als wollte sie ein nicht vorhandenes Stäubchen entfernen. „So ist´s brav, Paulie. Wir sehen uns.“ Als Sonny und Tanya aufstanden, um den Club Delirious zu verlassen, entdeckte Sonny am Nebentisch einen Mann, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er war sich jedoch nicht sicher, zumal das Licht sehr diffus war und er nur das Profil des Mannes sah. Kaum waren Sonny und Tanya fort, zückte er sein Handy und schrieb eine SMS, ehe er den Tisch verließ und sich an die Theke stellte. Von dort aus beobachtete er Paulie, der sich mehrere Biere genehmigte.Einen Moment später summte sein Handy, um ihm eine SMS anzukündigen. Er las sie und winkte dann den Barkeeper heran. „Bring Paulie mal einen doppelten Whisky“, bat er. „Sag ihm, der Drink wäre von einem Freund.“ Dann reichte er dem Barkeeper einen Geldschein. „Bring ihm so viele Drinks wie er für diesen Geldschein kriegt.“Der Barkeeper grinste. „Da wird der gute Paulie sich aber freuen. Es spendiert ihm nicht oft jemand einen Drink.“Der Mann hob sein eigenes Glas. „Manchmal hat man eben Glück“, sagte er, sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas betrachtend. Dann blickte er zu Paulie hinüber. „Manchmal aber auch nicht“, murmelte er, aber das hatte der Barkeeper schon nicht mehr gehört. Zwei Stunden später taumelte Paulie aus dem Club. Er hatte an diesem Tag nicht viel gegessen und die fünf Whisky, die der Barkeeper ihm gebracht hatte, waren ihm schnell zu Kopf gestiegen. Der Mann hatte Paulie nicht genau sagen können, wer der edle Spender war, da er den Club bereits verlassen hatte, aber eigentlich spielte das auch keine Rolle. Paulie hatte die Drinks genossen, die er sich normalerweise nicht leisten konnte, und jetzt war er nicht mehr fähig gerade zu gehen oder zu stehen. Die eisige Nachtluft schlug ihm entgegen, als er aus dem Club taumelte. Einen Moment lang blieb Paulie stehen, weil so viel geballter Sauerstoff ihn schwindelig machte. Er stöhnte kurz auf, hangelte sich dann an der Wand entlang, um die Gasse hinter dem Club zu benutzen. Sie war eine Abkürzung zu der Absteige, in der er ein Zimmer bewohnte. Außerdem fuhren keine Autos durch die Gasse und er lief nicht Gefahr überfahren zu werden, falls er mal das Gleichgewicht verlor. Das passierte gleich nach den ersten Schritten. Er stolperte und fiel auf die Knie. Nässe und Kälte drangen durch seine Hosenbeine und Paulie fluchte lallend. Mühsam kam er wieder auf die Beine und taumelte weiter. Der Fahrer eines dunklen, am Straßenrand geparkten Wagens stupste seinen Beifahrer an. „Wach auf! Da kommt unser Freund!“Der Beifahrer knurrte, zog dann den Reißverschluss seiner Jacke bis obenhin und schlüpfte in die schwarzen, fellgefütterten Lederhandschuhe. „Dann will ich mich mal ein bisschen mit unserem Freund Paulie unterhalten“, meinte er, ehe er ausstieg.
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SIEBENDie Nacht hatte sich über New York herabgesenkt. Sonny hatte, nachdem Tanya ihn am Hotel absetzte, eine Stunde lang in der Hotelbar gesessen, ein paar Drinks gekippt, und war anschließend müde in sein Bett gefallen. Zwei Mal war er kurz aufgewacht, weil heimkehrende Hotelgäste eine Menge Lärm auf dem Flur veranstalteten. Einmal hörte er eine Frau kichern. Sie sagte: „Schätzchen, wenn du schon den Magnetstreifen nicht einführen kannst...“„Pscht!“, machte ein Mann und die Frau kicherte wieder.Beim zweiten Mal knallte jemand, der offensichtlich eine Menge getrunken hatte, gegen Sonnys Tür und ließ ihn erschrocken hochfahren. Er saß da und lauschte, aber außer dem unterdrückten Fluchen einer sich entfernenden Person war nichts zu hören.Er sank in sein Kissen zurück, wartete, bis sich sein heftig klopfendes Herz beruhigt hatte, und schlief wieder ein. Beim dritten Mal war das Geräusch, das ihn weckte, dezenter. Sonny lauschte. In seinem Ohr piepte es wieder. Wahrscheinlich war er davon aufgewacht. Er konnte sich einfach nicht an diesen Tinnitus gewöhnen und er hoffte, dass der Arzt Recht hatte. Der Mann hatte behauptet, Sonny müsste sich auch gar nicht daran gewöhnen, denn das Geräusch wäre nur eine Folge des Schusses, der ihm das Ohr halb abgetrennt hatte und würde von selber verschwinden. Das Piepen hörte plötzlich auf und Sonny wurde bewusst, dass das Geräusch, das ihn geweckt hatte, nicht das Piepen in seinem Ohr gewesen war.Er schlug die Augen auf und hielt den Atem an. Da war es wieder! Ein feines kratzen an der Tür. Ein leises schaben. Irgendjemand war an der Tür und versuchte sie zu öffnen. Sonny setzte sich auf. Er schwang die Beine aus dem Bett und tappte, nur mit seiner Boxershorts bekleidet zur Tür. Das Geräusch verstummte, als wüsste die Person, die draußen stand, dass er auf dieser Seite lauschte. Dann hörte er ein leises Atmen. Sonny huschte zu dem Sessel, auf dem er abends seine Klamotten abgelegt hatte, und schlüpfte in seine Hose. Dann arrangierte er das Kissen und die Decke so, dass der Einbrecher glauben konnte, er läge darin. Dann eilte er ins Bad, dessen Tür links neben der Eingangstür lag, und wartete auf den Einbrecher. Wenige Minuten später öffnete sich tatsächlich die Tür. Eine dunkelgekleidete Gestalt huschte herein, blieb kurz stehen und blickte zum Bett. Diesen Moment nutzte Sonny zum Angriff. Die Überraschung war eindeutig auf seiner Seite, als er den Mann von hinten ansprang und ihm die rechte Faust auf den Schädel donnerte, während er den linken Unterarm gegen den Hals des Mannes presste.„Pech gehabt, Freundchen!“, knurrte Sonny.Der Einbrecher röchelte kurz, knallte Sonny dann aber seinen linken Ellbogen in den Magen, beugte sich ruckartig nach vorne und warf Sonny über seinen Kopf weg auf den Boden.Hart schlug er mit dem Rücken auf. Für einen Moment blieb Sonny die Luft weg. Der Einbrecher stürzte sich auf ihn, aber Sonny warf sich instinktiv zur Seite. Er rollte herum, stieß gegen das Bett und zog sich daran in die Höhe. Im gleichen Moment trat ihm der Angreifer gegen das Kinn. Sonny stöhnte auf und stolperte gegen die Wand. Sterne tanzten vor seinen Augen. Er hob die Arme, um sein Gesicht vor weiteren Schlägen zu schützen und als sein Gegner versuchte die Blockade zu unterlaufen gelang es Sonny seine Arme zu packen.Er spürte, dass seine Kraft längst noch nicht wieder zurückgekehrt war, aber hier ging es um sein Leben. Fairness war da fehl am Platze. Deshalb riss er sein rechtes Knie hoch und rammte es dem Einbrecher in den Unterleib. Er traf nicht richtig, aber es genügte, um den Kerl erst mal zumindest zu beeinträchtigen. Dann schleuderte er ihn nach hinten. Mit einem dumpfen Aufstöhnen fiel der Mann auf das Bett. Er zog die Knie an und als Sonny sich auf ihn stürzen wollte, trat der Mann ihm in den Magen.Erneut wurde Sonny gegen die Wand geworfen.Im Unterbewusstsein registrierte er, dass draußen Stimmen zu hören waren. Offensichtlich war irgendjemand auf den Lärm in seinem Zimmer aufmerksam geworden.Der Einbrecher nutzte den Augenblick der Unaufmerksamkeit. Er sprang auf und deckte Sonny mit einer schnellen Folge sehr gezielter Schläge ein, ehe er floh.Sonny sank zu Boden.
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ACHTNur langsam kam Sonny zu sich. Alles um ihn herum schien gleißend hell zu sein und es gab eigentlich keine Stelle an seinem Körper, die nicht schmerzte oder stach. Das Piepen in seinem Ohr schien auch lauter geworden zu sein.Sonny stöhnte. „Heißt das, Sie sind wieder da?“, hörte er Tanyas erfreute Stimme.Sonny brummte erneut. „Wieso war ich weg?“, wollte er wissen.„Oh, Sie sind ein Spaßvogel“, meinte Tanya. „Also, Sie waren weg, weil jemand Sie ins Reich der Träume geschickt hat.“Sonny versuchte seine Kiefer mehr zu bewegen, um herauszufinden, ob etwas gebrochen war. Die Bewegung tat zwar weh, aber es ging. „Wohl eher ins Reich der Albträume.“ Er hob seine rechte Hand, betrachtete sie von allen Seiten und strich sich dann über das Gesicht. Es war geschwollen, die Lippe verkrustet.„Haben Sie gesehen, wer Sie so zugerichtet hat?“, wollte Tanya wissen.„Er hat mir keine Visitenkarte dagelassen und sich unhöflicherweise auch nicht vorgestellt“, murrte Sonny. „Er hat nicht mal freundlich angeklopft.“Er versuchte sich aufzusetzen. Seine Rippen taten weh und es dauerte einen Moment, ehe er saß. Tanya saß auf einem Stuhl mit Metallgestänge und einem weißen Plastiksitz an der rechten Bettseite. „Wenn Sie mich fragen, dann war das einer von Ricostas Leuten. Die wissen, dass ich hier bin, auch wenn ich keine Ahnung habe woher.“Sonny schwang die Beine aus dem Bett. Als er aufstand, wurde es ihm etwas schwindelig.„Was genau haben Sie vor, Lieutenant Crockett?“, fragte Tanya.„Sonny!“, berichtigte er.„Meinetwegen. Also, was haben Sie vor, Sonny?“„Ich werde mich anziehen, das Krankenhaus verlassen und nach einem Weg suchen mich mit Ricosta zu unterhalten.“Sonny öffnete den Schrank. Er fand ein Hemd und seinen Wintermantel darin. Seine Stiefel standen auf dem Boden.„Ich halte das nicht für eine gute Idee, Sonny. Sie sollten erst mal wieder zu Kräften kommen...“ Sonny hörte nicht hin. Er verschwand mit seinen Sachen im Bad, wo er erst mal einen Blick in den Spiegel warf. „Mr. World werde ich mit dem Gesicht wohl eher nicht werden, aber einen Job in der Geisterbahn könnte ich sicher kriegen, wenn sie mich bei der Polizei rauswerfen“, sagte er mit Galgenhumor zu seinem Spiegelbild. Wenige Minuten später war er fertig und trotz der Proteste des Arztes verließ Sonny mit Tanya das Krankenhaus. Es schneite wieder und Sonny hatte das Gefühl, dass die Flocken jedes Mal dicker und dichter wurden.„Rico sagte oft, dass Sie genauso stur wären wie Ihr Alligator“, sagte Tanya kopfschüttelnd. „Und er hat Recht, auch wenn ich mich mit Alligatoren nicht auskenne.“ Sie waren gerade ins Auto gestiegen, als Tanyas Handy klingelte. „Murphy?“Tanya lauschte einen Moment, warf Sonny dann einen schnellen Blick zu. Nach einem tiefen Atemzug entschied sie: „Ich komme sofort.“Sie legte auf, sah Sonny erneut an und erklärte: „Man hat Paulies Leiche in der Straße hinter dem Club Delirious gefunden.“Dann startete sie den Motor. Der Wagen rutschte und schlingerte, als sie losfuhr, aber Tanya ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen.„Was sagte der Anrufer noch?“, wollte Sonny wissen.Tanya zuckte die Achseln. „Nur, dass man Paulie gefunden hätte und er sehr übel aussähe.“ Sonny dachte an den Mann, der abends am Nebentisch gesessen hatte und der ihm irgendwie bekannt vorgekommen war. Er erzählte Tanya davon. „Offen gestanden habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Verdammt, ich hatte ja keine Ahnung, dass Ricosta längst wusste, dass ich in der Stadt bin!“Falls Paulies Tod tatsächlich etwas mit Ihnen zu tun hat“, gab Tanya zu bedenken. „Paulie arbeitete, glaube ich, auf vielen Seiten. Nur so ist es zu erklären, dass er immer über alles Bescheid wusste. So jemand macht sich aber leider auch eine Menge Feinde.“Sonny schnaubte und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, kommen Sie, Tanya, wachen Sie auf! Kaum bin ich in der Stadt, wird einer Ihrer wichtigsten Informanten umgebracht und mich versucht jemand in meinem Hotelzimmer umzubringen. Sie können mir nicht erzählen, dass das alles Zufall ist!“ Es dauerte ziemlich lange, ehe sie die Straße hinter dem Club Delirious erreichten. Die Hauptstraßen waren verstopft von Fahrzeugen, die wegen des massiven Schneefalls liegen geblieben waren. Es hatte mehrere Unfälle gegeben, aber selbst für die Polizei, die Feuerwehr und die Rettungswagen war es beinah unmöglich durchzukommen. Tanya musste etliche Umwege in Kauf nehmen und sie kamen nur im Schneckentempo vorwärts. In den Nachrichten wurde verkündet, dass man den John F. Kennedy Airport wahrscheinlich bald dicht machen würde und dass LaGuardia vermutlich dem Beispiel folgte. Den Newark Liberty International Airport hatte man bereits am Morgen geschlossen, nachdem ein Flugzeug über die Landebahn hinausgerutscht war. Die Sache war zum Glück glimpflich verlaufen. Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Die Straße war mit gelben Flatterbändern abgesperrt, mehrere Einsatzfahrzeuge standen dort mit blinkenden Lichtern.Tanya stellte den Wagen ab, sie stiegen aus und gingen zu dem uniformierten Kollegen hinüber, der mit hochgezogenen Schultern am Flatterband Wache schob. Sein Blick hing an Sonny.„Das ist Lieutenant Sonny Crockett von Miami Vice“, stellte Tanya ihn geschäftsmäßig vor. Der Uniformierte zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Miami Vice? Mitten im Winter in New York?“Sonny grinste nur, als er unter dem Flatterband durchtauchte. Er stopfte die Hände in die Taschen seines Wintermantels und marschierte neben Tanya her zum Fundort der Leiche. In dieser Seitenstraße – mehr eine „Hinterstraße“ – standen die Mülltonnen der verschiedenen Clubs und Geschäfte. Große, silberfarbene Container, deren offenstehende Klappen mit den blauen und schwarzen herausragenden Mülltüten darin wie die Mäuler verfressener Monster wirkten. Schnee hatte sich in den Ritzen der Tüten gesammelt, die aussahen, als hätten sie sich Mützen aufgesetzt.Auf dem Boden um einen Container, der etwa in der Mitte der Gasse stand, lag ein aufgeplatzter Müllsack, dessen Inhalt – leere Pappschachteln, Plastikbecher, zerschlagene Glasflaschen und Essensreste – verstreut herumlag. Paulies Leiche hatte man längst in einen schwarzen Leichensack gepackt, der aber noch einmal geöffnet wurde, damit Tanya und Sonny einen Blick darauf werfen konnte. Man hatte dem armen Kerl das Gesicht zu Brei geschlagen, ehe man ihn tötete. Die Mitarbeiter der Spurensicherung hatten versucht mit grüner Farbe den Umriss seines Körpers dort auf den Boden zu malen, wo Paulie gelegen hatte. Bei den derzeitigen Schneefällen würde es allerdings ein schnell vergängliches „Kunstwerk“ sein. Freddy Johnson kam zu Sonny und Tanya herüber. Er musterte Sonny, der ihm die Hand reichte und sich vorstellte. Freddy lächelte kurz. „Ricos Freund aus Miami mit dem verrückten Alligator“, sagte er.Sonny zog brummelnd die Schultern hoch. Zum einen fand er die Kälte entsetzlich, zum anderen störte es ihn, dass er hier für alle „der mit dem verrückten Alligator“ war. So schlimm war Elvis nun auch wieder nicht gewesen. Er würde mal dringend ein ernstes Wörtchen mit Rico reden müssen! „Was ist passiert?“, fragte Tanya geschäftsmäßig. „Sonny und ich trafen Paulie gestern Abend und er war sehr lebendig.“„Er ging hier entlang und lief seinem Mörder in die Arme“, erwiderte Freddy. Er wies auf den herumliegenden Müll. „Sehr gewehrt hat er sich nicht. Der Angriff kam wohl zu überraschend und wahrscheinlich von hinten.“ Freddy wies auf den Container, um den herum der Müll auf dem Boden lag. „Er knallte Paulies Gesicht gegen den Container. – Vermutlich mehr als einmal. Dann tötete er ihn mit fünf Stichen in den Oberkörper.“ Dann blickte er Sonny an. „Was treibt Sie nach New York, Lieutenant Crockett?“Sonny wies mit dem Kinn auf den Leichensack, der gerade ins Pathologiefahrzeug geschoben wurde. „Möglicherweise der gleiche Kerl, der auch Paulie auf dem Gewissen hat“, antwortete er.
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NEUNSonny bestand darauf Tanya ins Büro zu begleiten, obwohl sie zuerst protestiert hatte. Sie war der Meinung, dass Sonny sich nach der Attacke in seinem Hotelzimmer ausruhen sollte. Immerhin war es erst etwas mehr als eine Woche her, dass man auf ihn geschossen hatte und gestern Nacht hatte er einige ziemlich harte Schläge einstecken müssen.Sonny sah das anders. „Ich lege mich nicht ins Bett, während irgendwo jemand Pläne schmiedet, wie er mich am besten umbringen kann, Ms. Murphy!“„Tanya!“, korrigierte Tanya. Bisher hatte sie ihm nicht angeboten sie beim Vornamen zu nennen und Sonny war zu höflich, um es einfach so zu tun....- und er war zu eitel, um sich einzugestehen, dass Tanya wahrscheinlich seine Tochter sein konnte. Nein, über so etwas wollte er überhaupt nicht nachdenken. Man war nur so alt, wie man sich fühlte... – aber darüber dachte er momentan besser auch nicht nach, denn er hatte sich schon jünger gefühlt. „Als wir gestern Abend den Club verließen, habe ich jemanden am Nebentisch gesehen, der mir bekannt vorkam. Ich kenne allerdings nicht seinen Namen. Inzwischen bin ich sicher, dass uns jemand in den Club folgte, unser Gespräch mit Paulie belauschte, und beschloss ihn beiseite zu räumen, ehe Paulie uns die gewünschte Information besorgen kann.“ Eine Weile konzentrierte Tanya sich aufs Fahren. Es schneite zwar im Moment nicht mehr so stark, aber dennoch unaufhörlich. Die Temperaturen waren über Nacht weiter gesunken, bewegten sich nun um die minus sechs Grad (- 20° Celsius.)In den Nachrichten wurde verkündet, dass JFK nun geschlossen wurde. „Chaos pur“, murmelte Tanya. „Bald geht gar nichts mehr.“ Sonny dachte wieder an den Kerl im Club Delirious. Er fragte sich, ab wann er ihm gefolgt war. Wann hatte man ihn entdeckt? Und wo?In Gedanken ging Sonny die verschiedenen Stationen durch, die er seit seiner Ankunft in New York angesteuert hatte. Er war vom Flughafen aus mit einem Taxi zum Hotel gefahren, vom Hotel zu den Geschäften, in denen er den Mantel und die Stiefel kaufte, und natürlich zu der Autovermietung. – Und zum Präsidium! Überall konnte man ihn zufällig entdeckt haben. Es blieb nicht aus, dass er auch an einen Spitzel bei der Polizei dachte. Immerhin hatte er schon mehr als einmal mit korrupten Polizisten zu tun gehabt und einer wie Manuel Ricosta hatte Spitzel in allen wichtigen Behörden sitzen. „Denken Sie, Sie können den Kerl, den Sie gesehen haben, so beschreiben, dass wir ein Phantombild von ihm erstellen können?“, fragte Tanya irgendwann.Sonny schnaubte. „Machen Sie Witze?“Tanya zuckte die Achseln. „Das war nur eine Frage! Es könnte ja sein, dass Sie nicht so genau hingesehen haben, weil Sie nicht erwarteten, dass es wichtig sein könnte.“Sonny knurrte: „Ich beschreibe den Kerl so gut, dass seine blinde Großmutter ihn wiedererkennt!“ Zwanzig Minuten später erreichten sie das Präsidium. Tanya besorgte erst mal eine Kanne Kaffee, während Sonny sich an ihrem PC niederließ und die wichtigsten Merkmale des Mannes eingab. Sonny hackte wütend auf der Tastatur herum. Er war sich sicher, dass er den Kerl schon in Miami gesehen hatte. Bei einem Vorgespräch hatte er den Wagen gefahren, mit dem Giorgio gekommen war. Während sie geredet hatten, war der Kerl ausgestiegen, um zu rauchen. Offensichtlich war es in „Maestro“ Ricostas Wagen nicht gestattet zu rauchen. Na ja, eigentlich gab es nur noch wenige Orte, an denen es erlaubt war sich einen Glimmstängel anzuzünden. Sonny war wirklich froh, dass er dieses Laster schon vor langer Zeit aufgegeben hatte. Aber er ärgerte sich darüber, dass er den Mann nicht sofort hatte einordnen können. Er wurde anscheinend nachlässig. Sein Jagdinstinkt ließ nach. Das konnte gefährlich werden. „Schon was gefunden?“, fragte Tanya, als sie mit einem Tablett zurückkehrte, auf dem sich die chromfarbene Thermoskanne, zwei Tassen, ein leerer Unterteller, ein Päckchen Kaffeesahne und einige Tütchen Zucker befanden.Im gleichen Moment erschien auf dem Bildschirm das Bild eines jungen Mannes: Ein Südländer mit lackschwarzen, kurzen, leicht gewellten Haaren, höchstens Mitte zwanzig, ein Frauentyp mit melancholischen, dunkelbraunen Augen und sinnlichen Lippen. „Ja“, sagte Sonny sehr zufrieden, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist er.“Tanya stellte das Tablett ab und warf einen Blick um die Ecke auf den Bildschirm. „Mmh, niedlich!“, meinte sie.Achselzuckend entgegnete Sonny: „Wenn man auf Verbrecher steht...! Dieser Mann steht eindeutig in Kontakt zu „Maestro“ Ricosta.“ Er erzählte ihr, wo er ihn schon gesehen hatte. Tanya nickte. „Dann wollen wir mal sehen, ob wir ihm auch einen Namen geben können“, murmelte sie und drückte auf mehrere Tasten.Ein anderes Foto des Mannes zeigte sich, darunter standen einige Informationen. Sonny las halblaut: „Roberto Vilacon. Geboren 1977 in New York, erhielt 1991 eine Bewährungsstrafe von acht Monaten wegen Diebstahl, 1994 eine weitere Bewährungsstrafe von achtzehn Monaten wegen Rauschgiftbesitz. Das ist nicht viel.“„Darf ich mal?“, bat Tanya und drückte auf einigen Tasten herum. „Ich hatte gestern Abend bei anderen Polizeidienststellen nach Informationen über einen Drogenboss nachgefragt, der sich Maestro nennt, aber bis Dienstschluss war noch nichts eingegangen.“ Der Computer zeigte einige Fotos, die eindeutig von irgendeiner High Society Party stammten. Champagnerflaschen in silbernen Kühlern standen auf dem Tisch, die Gläser waren halb gefüllt. Die drei Männer, die an dem Tisch saßen, trugen Smokings, die beiden Frauen Abendkleider und teuer aussehenden Schmuck. Sonny spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, sein Mund trocken wurde und sich seine Muskeln versteiften, als er die Fotos ansah. Er konnte es nicht glauben!
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ZEHNTanya sagte irgendetwas von einer Party anlässlich einer Club – Eröffnung. Bestimmt nannte sie auch den Namen des Clubs, aber ihre Worte rauschten wie ein Wasserfall an Sonnys Ohren vorbei. Er starrte nur auf das Foto. Links, neben einer vollbusigen Brasilianerin mit eindeutig zuviel Schminke im Gesicht, saß Roberto Vilacon. Die Dame schmiegte sich an ihn, wandte ihr Gesicht nur halb der Kamera zu, hatte die Lippen geöffnet und sah aus, als wollte sie Robertos linkes Ohr abbeißen. Roberto grinste sehr vergnügt mit einem eindeutig alkoholumnebelten Blick. Auf der anderen Seite der Brasilianerin sah Sonny Giorgio Mendes sitzen. Er hatte sich nach rechts gebeugt und versuchte der Brasilianerin über die Schulter ins Dekollete zu schielen.Links neben Mendes saß Maestro, der gleiche Mann, den er am Fenster des Wagens gesehen hatte, kurz bevor dieser schoss und Sonny die Lichter ausgingen. Maestro hielt eine Brünette im Arm, die aussah wie Lynn nur mit dunklen Haaren. Sonny starrte das Foto an. Handelte es sich nur um eine zufällige Ähnlichkeit? Angeblich hatte jeder Mensch irgendwo auf der Welt mindestens einen Doppelgänger.Er dachte an den letzten Abend mit Lynn im BELLEVUE, als er sie gebeten hatte ihm mehr von sich zu erzählen.„Es gibt nichts interessantes über mich“, hatte sie behauptet. „Meine Eltern sind normale Menschen mit normalen Jobs. Ich besuchte eine normale Schule und machte eine Ausbildung. Ich war immer ein braves Mädchen, das seinen Eltern nie Schande bereitete. Ich trieb mich nicht mit Jungs herum, trank nicht und nahm keine Drogen.“Die Brünette hielt das halbgefüllte Champagnerglas in der Hand und sie sah aus, als hätte sie es schon einige Male geleert gehabt, als dieses Foto entstand.Hatte Lynn ihn belogen? War sie nicht so brav gewesen, wie sie ihm hatte weismachen wollen? War sie vor Manuel Ricosta nach Miami geflohen? Tanya legte ihm besorgt die Hand auf die Schulter. Sie hatte ihm einiges über die Eröffnung des Clubs erzählt, aber sie hatte das Gefühl, dass Sonny mit seinen Gedanken ganz woanders war. „Sonny? Alles in Ordnung?“Sonny blinzelte. Er wollte jetzt nicht mit Tanya über Lynn reden. Nicht, bevor er sich Gewissheit verschafft hatte, ob die Ähnlichkeit zufällig war oder ob es sich bei der Frau auf dem Foto wirklich um Lynn Bendall handelte.„Ja, alles bestens“, behauptete er, deutete auf Ricosta und fragte: „Wer ist der Kerl neben der Brünetten auf dem Foto?“Tanya sah ihn von der Seite an. Seine Frage verdeutlichte, dass er ihr wirklich nicht zugehört hatte. „Das ist Manuel Ricosta, ein vermögender, sehr angesehener Geschäftsmann. Ihm gehören drei große, sehr gut gehende Clubs hier in Miami und vor einigen Wochen hat er, wenn die Gerüchte stimmen, ein Hotel gekauft, das er sanieren und umbauen lassen will.“Sonny wies auf den Bildschirm. „Ricosta hat Lynn getötet und versucht mich ebenfalls umzubringen“, erklärte er. Tanyas Diensttelefon klingelte. Sie ging dran, lauschte einen Moment und sagte dann: „Ich bin in ein paar Minuten da.“Dann legte sie auf, blickte Sonny bedauernd an und meinte: „Ich muss Sie eine Weile allein lassen, aber ich schätze, dass ich in etwa einer halben Stunde wieder da bin.“Sonny grinste. „Kein Problem. Ich bin schon groß und werde mich bestimmt nicht fürchten.“ Er wies auf die anderen Schreibtische, an denen Beamte ihren Dienst verrichteten. „Außerdem bin ich ja gar nicht allein.“ Als Tanya fort war, starrte er weiter die Brünette auf dem Bildschirm an. Er war nicht sicher, ob es sich wirklich um Lynn handelte oder nicht. Ein sehr merkwürdiger Fall, den er und Rico vor Jahren bearbeitet hatten, kam ihm in den Sinn. Eine Pornodarstellerin war beim Dreh einer Tötungsszene tatsächlich umgebracht worden. Es hatte sich damals als sehr schwierig erwiesen die Wahrheit herauszufinden, denn es hatte plötzlich drei Frauen geben, die sich sehr ähnlich sahen. War es hier genauso? Er musste die Wahrheit herausfinden! Sonny gab den Namen Lynn Bendall ein und wartete. Der Computer zeigte keinen Treffer. Eine Frau dieses Namens war nicht in den Polizeiakten aufgeführt. – Was nichts heißen musste. Vielleicht lautete ihr Name ja gar nicht Lynn Bendall.Ihm fiel ein, dass er auch nicht wusste aus welchem Ort Lynn stammte. Sie hatte immer nur vom Norden gesprochen, aber dort gab es eine Menge Städte. Vielleicht hatte der Grund, weshalb sie ihm nichts über sich erzählt hatte, wirklich damit zu tun, dass sie vor irgendetwas geflohen war. Das musste allerdings nicht zwingend Ricosta sein. Es gab eine Menge Dinge im Leben, vor denen man fliehen konnte. Nicht alle waren illegal. Sonny schnappte sich sein Handy und rief Stan an. Der Geräuschkulisse im Hintergrund nach zu urteilen erwischte er den Freund im Büro.„Hallo, Stan, ich bin´s, Sonny!“ Sonnys Blick hing kurz an der älteren Sekretärin mit den leicht angegrauten Haaren. Sie lächelte freundlich, als sie an ihm vorbei ging, um in den Aktenschränken, die hinter Tanyas Schreibtisch standen nach irgendeinem Vorgang zu suchen.„Oh, Sonny, was für eine Überraschung“, meinte Stan mit leiht ironischem Unterton. „Ich dachte, du wärst da oben festgefroren oder eingeschneit oder so etwas.“Sonnys Blick wanderte zum Fenster. Es schneite tatsächlich immer noch wie verrückt. „Tut mir leid, dass ich keinem von euch Bescheid gesagt habe, aber ich wollte nicht, dass ihr mir meine Reise hierher ausredet“, erwiderte Sonny. „Stan, ich weiß hundertprozentig genau, dass Lynns Mörder nach New York geflohen ist. Ich musste hierher fliegen, weil ich den Scheißkerl erwischen und festnageln will. Die Kollegen hier schlagen sich übrigens ebenfalls mit Maestro herum, der im wirklichen Leben Manuel Ricosta heißt und ein sehr erfolgreicher, hochangesehener Geschäftsmann ist.“ Sonny holte tief Luft. „Ricosta hat Lynn getötet, Stan. Stell dir vor, er hätte Gianna auf dem Gewissen...“ Sonny ließ den letzten Satz unvollendet und gab Stan einen Moment Zeit darüber nachzudenken. Er wusste, wie Stan reagieren würde, noch bevor der Freund es ausgesprochen hatte. Nachdem Stan Mitte Juli um ein Haar seine Frau und seinen Sohn durch die Bombe auf Alessios Hochzeit verloren hatte, sah er manche Dinge anders.„OK, meine Unterstützung hast du. Wir deklarieren es als offizielle Dienstreise.“Sonny grinste. Das machte es für ihn einfacher und Tanya musste keine beruflichen Konsequenzen befürchten, wenn sie ihm half.„Hör mal, Stan, ich muss dich etwas wegen Lynn fragen. Ich weiß, dass dir die Frage seltsam erscheint, aber Lynn und ich waren noch nicht sehr lange zusammen und sie hat mir nie gesagt woher sie kommt. Was steht als ehemaliger Wohnort in ihren Unterlagen?“Stan räusperte sich. „Du, hör mal, Sonny, es gibt da...“„Sag mir nur, was in den Unterlagen steht, Stan!“, fiel Sonny dem Freund leicht ungehalten ins Wort.„Moment mal“, bat Stan daraufhin. Es dauerte eine Weile. Sonny hörte den Freund am anderen Ende herumschnaufen wie eine altersschwache Dampflok und er dachte, dass es Stan nicht schaden würde ein paar Kilos abzuspecken. Giannas Kochkünste waren ausgezeichnet, was man Stan sehr deutlich ansah. Schließlich fragte Stan: „Sonny?“„Ja?“„Sie kommt aus Mountainside, einem Vorort von New York, aber...“„Mountainside?“, fiel Sonny ihm ins Wort. „Das werde ich schon finden. Danke, Stan.“„Hör mal, Sonny ...“, begann Stan erneut, aber Sonny ließ ihn auch jetzt nicht ausreden. Normalerweise entsprach das nicht seiner Art, aber er wollte sich von Stan weder etwas ein – noch ausreden lassen.„Ich melde mich wieder bei dir. Danke, Stan“, sagte Sonny und legte auf. Er hatte jetzt keine Zeit, denn Sonny hatte eine Menge vor... und ihn erwarteten einige Überraschungen.
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ELFSonny druckte das Foto aus, auf dem die Frau zu sehen war, die Lynn so sehr ähnelte. Er musste dringend etwas tun, wollte nicht länger tatenlos herumsitzen und darauf warten, dass irgendjemand anders den Kerl dingfest machte... – oder Ricosta sich aus dem Staub machte. Sonny konnte sich gut vorstellen, dass es den Mann bei dieser Eiseskälte in wärmere Gefilde zog. Bestimmt besaß Ricosta mehrere Anwesen an hübschen warmen Orten. Außerdem wäre er nicht der erste Gangster, der sich durch Flucht der Bestrafung entzog. Sonny hatte schon eine Menge reiche Gangster in ihren Privatflugzeugen entkommen sehen. Ricosta würde nicht dazu gehören!

Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, das die Dunkelheit sich bereits herabsenkte. Er wartete deshalb nicht darauf, dass Tanya zurückkehrte. Er schnappte sich seinen Wintermantel und verließ das Büro bereits, während er ihn anzog. Auf dem Weg zum Aufzug knöpfte er ihn zu. Ungeduldig drückte er dann auf den Rufknopf und obwohl der Aufzug bereits nach wenigen Sekunden anhielt, kam es Sonny wie eine Ewigkeit vor.Er fuhr ins Erdgeschoss, durchquerte die Eingangshalle, wobei er dem Pförtner freundlich zunickte, und trat in den eisig kalten Abend hinaus. Einen Moment lang blieb er stehen, während die Kälte ihn wie eine Keule traf. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und ebenso seine Schultern, während er die Nase im Mantelkragen versenkte, weil er das Gefühl hatte nicht atmen zu können. Eins wusste er mit Bestimmtheit: Was auch immer in seinem Leben passierte, ein Umzug in diese Ecke des Landes käme für ihn nie infrage. Die Winter waren ihm einfach zu kalt. Sonny winkte ein langsam vorbeizockelndes Taxi heran. Er stieg ein und nannte dem Fahrer die Adresse seines Hotels. Der Mann drehte sich kurz um, nickte und meinte: „Kann aber ´ne Weile dauern, Mister. In dieser Stadt herrscht normalerweise schon ein ziemliches Chaos auf den Straßen, aber heute...!“„Ja“, murmelte Sonny nur. Es ging sehr langsam vorwärts. Sonny saß im Wagenfond und starrte zwischen den Sitzen hindurch auf die vereiste Straße. Der Schnee glitzerte im Schein der Straßenlaternen und mehr als einmal geriet der erfahrene Taxifahrer ins rutschen. Jedes Mal dachte Sonny, dass sie in ein anderes Fahrzeug rutschten, einen Laternenmast trafen oder einen der Fußgänger erwischten, die einfach zwischen den Autos durch liefen.Die weiße Pracht begann allerdings bereits ihre Schönheit einzubüßen und sich mit einer schmutzig – grauen Schicht zuzudecken.Sonny sah Leute, die über den Gehsteig schlidderten und Fahrzeuge, die, wie das Taxi, leicht schlingerten und rutschten. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis sie das Hotel erreichten. Er entlohnte den Fahrer, legte ein großzügiges Trinkgeld obendrauf und stieg aus. Einen Moment lang war er versucht seinen Plan auf den nächsten Morgen zu verschieben. Das Wetter wie auch die Straßenverhältnisse waren eine einzige Katastrophe. – Aber morgen war es vermutlich noch viel schlimmer. Wenn es über Nacht so weiterschneite, saß er morgen vielleicht in der Stadt fest. Sonny eilte rutschend ins Hotel. Nie war ihm das laufen so gefährlich erschienen und er fragte sich, ob er es tatsächlich heil bis nach Mountainside schaffen würde. Schließlich war er nie zuvor auf Schnee – und eisglatter Fahrbahn gefahren. Dann wischte er den Gedanken weg. Das wäre doch gelacht, wenn er sich von diesem Schneechaos da draußen unterkriegen ließe! Er bat darum, dass man ihm die Rechnung fertig machte, ehe er hinauf in sein Zimmer fuhr und seine Sachen packte.Das Handy klingelte. Sonny warf einen Blick auf das Display und stellte fest, dass es Tanya war. Sonny war nicht überrascht, dass sie ihn anrief.„Hallo, Tanya“, sagte er. „Was ist passiert, Sonny?“, wollte Tanya wissen. „Ich kam ins Büro zurück und meine Kollegen erklärten mir, Sie hätten ein Telefonat geführt und danach fluchtartig das Büro verlassen.“„Tut mir leid, dass ich nicht auf Ihre Rückkehr gewartet habe, aber ich muss noch heute nach Mountainside, um etwas zu überprüfen.“„Nach Mountainside?“, wiederholte Tanya verständnislos.„Ich kann das jetzt nicht erklären, aber ich melde mich morgen... – und ich muss jetzt leider los.“ Sonny wünschte Tanya einen schönen Abend und beendete das Gespräch. Dann warf er schnell die restlichen Sachen in seine Reisetasche, ehe er das Hotelzimmer verließ. Etwa zehn Minuten später saß Sonny in dem Mietwagen, der zum Glück über ein Navigationssystem verfügte. Er gab die notwendigen Informationen ein und fädelte sich anschließend in den Verkehr ein, während sein Beobachter immer noch vor dem Präsidium in seinem Wagen saß. Er hatte den Moment, in dem Sonny das Präsidium verließ, verpasst, weil er in einen Artikel im Playboy vertieft gewesen war. Erst als Tanya Murphy allein das Präsidium verließ, um nach Hause zu fahren, merkte er, dass er etwas übersehen hatte, aber da war Sonny längst unterwegs. Sonny fuhr vorsichtig, weil das Fahren im Schnee eine vollkommen neue Erfahrung war und er auf den ersten Metern schon bereits um ein Haar zwei Fahrzeuge gerammt hätte. Er starrte hinaus in das Schneetreiben, kniff die Augen sogar etwas zusammen in der Hoffnung, dann besser sehen zu können, aber es funktionierte nicht. Die Flocken schienen auf ihn zuzukommen und es schmerzte beinah in den Augen auf die Straße zu blicken, während Sonny mit einem Ohr der monotonen, weiblichen Stimme aus dem Navigationssystem lauschte. Sonny fragte sich, wie lange er wohl bis nach Mountainside benötigen würde. Auf die Zeitangabe des Navigationssystems würde er sich jedenfalls nicht verlassen können, weil das Ding weder eine Ahnung von den Wetterverhältnissen hatte noch von dem absoluten Chaos auf New Yorks Straßen. Es dauerte mehr als eine Stunde und fünf beinah - Unfälle, bis er aus der Stadt heraus war, denn immer wieder kam es zu Staus, weil es irgendwo geknallt hatte. Die Straßen außerhalb der Stadt waren allerdings nicht besser. Auf der anderen Gegenfahrbahn entdeckte Sonny einen Schneepflug mit rotierenden Lichtern. Die Schneeflocken tanzten lustig in seinem Licht. „Scheißschnee“, grummelte Sonny, während er über die Straße schlich wie noch nie in seinem Leben. Nicht mal an dem Tag, als er zum allerersten Mal einen Wagen gesteuert hatte, war er so langsam gefahren. Er hatte das Gefühl, er würde schneller vorankommen, wenn er zu Fuß ging... – was natürlich ein Trugschluss war. Die anderen Autofahrer schlichen allerdings genauso. Niemand wagte es aufs Gas zu gehen. Er kam an einer Unfallstelle vorbei. Der Wagen hing in der Leitplanke und man sah deutlich, wo er sich auf der Fahrbahn gedreht hatte, ehe er zuerst mit der Schnauze, dann, nach einer weiteren Drehung, mit dem Heck gegen die Leitplanke geknallt war. Zum Glück war nichts schlimmeres passiert, denn der Fahrer war bereits aus dem Wagen geklettert, zwei weitere Fahrzeuge standen mit eingeschalteter Warnblinkanlage auf dem Seitenstreifen, die Fahrer leisteten dem Verunfallten Hilfe. Sonny fuhr weiter. Die Blechstimme leitete ihn zur Interstate 78, die zum Glück sehr gut geräumt war. So, wie die Fahrbahn aussah, war der Schneepflug erst vor wenigen Minuten hier entlang gekommen. Der Schneefall nahm weiter zu. Inzwischen konnte er fast nichts mehr sehen vor lauter herumwirbelnder Flocken. Die Scheibenwischer wurden kaum Herr über die wirbelnden Flocken.Sonny begann zu bereuen, dass er die Fahrt nicht auf den nächsten Morgen verschoben hatte. Zumindest wären dann die Sichtverhältnisse besser gewesen. Mit gleichbleibendem Tempo schlich Sonny dahin. Beruhigend war nur, dass die anderen Fahrzeuge, deren Fahrer sicherlich erfahrener waren, was das Fahren im Schnee anbelangte, auch nicht schneller fuhren als er. Anderthalb Stunden später sagte die Blechstimme, er solle an der nächsten Ausfahrt die Interstate 78 verlassen und auf die 22 abbiegen. Sonny starrte mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe nach draußen. Auf der Straße herrschte nur wenig Verkehr. Der Schneepflug kam ihm nun mit rotierenden Lichtern entgegen und verschwand in der Dunkelheit, während die Straße auf Sonnys Seite bereits wieder weiß war. „Springfield“, las Sonny auf einem Schild. Sofort musste er an seinen inzwischen fünfzehjährigen Sohn denken. Jamie war total verrückt auf die Simpsons. Eine weitere – knappe - Stunde später hatte Sonny endlich Mountainside, einen beschaulichen 6000 Seelen – Ort erreicht. Er fuhr die Hauptstraße, die New Providence Road, entlang auf der Suche nach einer Unterkunft. Hoffentlich hatte Mountainside überhaupt so etwas wie ein Motel.Sonny beschloss, erst mal auf der New Providence Road zu bleiben. Seine Augen huschten ständig von rechts nach links in der Hoffnung irgendwo ein Hinweisschild auf ein Motel zu finden. Er entdeckte eine Tankstelle, verschiedene Läden und insgesamt drei Kneipen, deren beleuchtete Reklameschilder ihm mitteilten, dass sie geöffnet hatten. Sonny wagte allerdings zu bezweifeln, dass an einem Abend wie diesem viele Leute an der Theke saßen. Eine Bäckerei mit einem dazugehörenden Café entdeckte er ebenfalls. Am Trailside Nature and Science Center Planetarium stand ein Schild, auf dem er lesen konnte, dass das Gebäude wegen Erweiterungs - und Renovierungsarbeiten voraussichtlich bis Frühjahr 2010 geschlossen bleiben würde. Schließlich beschrieb die New Providence Road eine scharfe Rechtskurve, in der eine Straße namens Deer Path auf die Hauptstraße stieß. Gerade als Sonny darüber nachdachte, ob er sein Glück auf der Deer Path versuchen sollte, entdeckte er das Hinweisschild am Straßenrand. „Hickory Hill Restaurant und Motel. Das klingt sehr einladend“, murmelte er. Für einen Moment war er abgelenkt und so angetan von dem Gedanken endlich für heute irgendwo anzukommen, dass er nicht auf die Straße achtete. Er lenkte den Wagen nach rechts, um weiterhin der New Providence Road zu folgen, und unterschätzte offensichtlich die Glätte in der Kurve. Der Jeep brach hinten aus, rutschte über die Fahrbahn auf einen dicken Baum auf der anderen Seite zu. Sonny machte alles falsch. Er trat massiv auf die Bremse, riss das Steuer herum und merkte, dass der Wagen vollkommen anders reagierte als erwartet. Er rutschte und rutschte und der Baum kam immer näher. Sonny brach der Schweiß aus. Er sah sich bereits an dem Baum kleben, so, wie der Wagen, den er an der Leitplanke hatte kleben sehen. Erneut riss er das Steuer herum, aber dass er den Baum verfehlte, verdankte er letztendlich nur einem großen Schneehaufen, der ihn bremste. Es gab einen dumpfen Knall, als er gegen den Haufen prallte. Der Schnee knirschte protestierend, aber der Wagen kam zum stehen...- mit der rechten hinteren Seite etwa einen halben Meter neben dem Baum. Sonny atmete auf. Einen Moment lang blieb er einfach sitzen, wartete, bis sich ein rasender Herzschlag beruhigt hatte und der Schweiß aufhörte aus allen Poren zu dringen. Dann versuchte er vorsichtig den allradgetriebenen Wagen aus dem Schneehaufen zu befreien.Schließlich entdeckte er die Einfahrt zum Motel. Zum Glück war das Hinweisschild groß und es befand sich genau unter einer Straßenlaterne, sonst hätte er es wohl übersehen Er fuhr, dem Schild Rezeption folgend, an einer Reihe geduckt wirkender Häuser vorbei zu einem etwas größeren, erleuchteten Haus. Davor gab es einen ebenfalls erleuchteten Parkplatz. Fünf weitere, allradgetriebene Fahrzeuge anderer Gäste parkten dort und eine eingemummte Person saß auf einem umgebauten Aufsitzmäher mit einem Schneeschild vorne dran und versuchte die Schneemassen zu bändigen.Sonny parkte den Wagen auf einem bereits geräumten Platz nah bei einer Lampe, schlug den Mantelkragen hoch und stieg aus. Die eisige Luft fuhr ihm ins Gesicht und nahm ihm für einen Augenblick den Atem. Der Schnee fühlte sich fast wie Nadelstiche auf der Haut an. Er senkte den Kopf, bis seine Nase im Mantelkragen verschwunden war, ehe er um den Wagen herumging. E wollte nachsehen, ob der Wagen beschädigt worden war, als er in den gefrorenen Schnee krachte, aber es war trotz Lampe zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Sonny seufzte und stapfte zum Eingang der Rezeption eilte. Drinnen war es warm und gemütlich. Es gab viel Holz, Terracottafliesen bedeckten den Boden und an der Wand reihten sich Fotos aneinander, auf denen man den Werdegang des Motels verfolgen konnte.Hinter dem Tresen saß eine junge, hübsche Frau mit kastanienbraunen Haaren, grauen Augen und einer Stupsnase. Auf dem kleinen Schild, das auf dem Tresen stand, las Sonny, dass sie Abby Elderidge hieß.„Guten Abend“, sagte Sonny freundlich. „Haben Sie noch ein Zimmer frei?“Abby Elderidge erwiderte den Gruß und nickte. „Natürlich.“ Sie schob ihm einen Anmeldebogen hin und während er ihn ausfüllte erklärte sie ihm, was das Zimmer kostete und was er zu beachten hatte. Sonny hörte nicht hin. Diese Bestimmungen waren überall gleich und er hatte nicht vor sich daneben zu benehmen. Schließlich reichte Abby ihm den Schlüssel für Zimmer zwölf. Sonny holte seine Tasche aus dem Wagen und stapfte den breiten Weg mit den kleinen Laternen am Rand entlang hinüber zu den Reihenhäusern. Sie waren aus Holz gebaut und besaßen einen großen Dachüberstand, der sich schützend über eine hölzerne Terrasse wölbte. Als Sonny sich den Häusern näherte, aktivierte er die Bewegungsmelder an den Türen. Ein Licht nach dem anderen leuchtete auf, um nach einer bestimmten Zeit wieder zu verlöschen.Nummer zwölf war das letzte Haus in der Reihe auf der rechten Seite. Links gab es einige Häuser mehr. In drei dieser Häuser brannte Licht, bei dem Haus, das Sonnys Unterkunft schräg gegenüberlag, öffnete sich gerade die Tür, aber Sonny achtete nicht auf die Person, die heraustrat. Er war froh, dass er angekommen war und sich nun ausruhen konnte.Sonny schloss die Tür auf. Seine Hand tastete suchend über die Wand nach dem Lichtschalter. Es wurde hell. Er trat ein und sah sich um. Links stand ein großes Doppelbett mit einem Quilt darauf, in dem grüne und blaue Farben dominierten. Dem Bett gegenüber befand sich ein großer Fernseher auf einem Holzschrank. Daran schloss sich ein runder Esstisch mit zwei Stühlen an, der vor einem Fenster stand.Auf der Bettseite teilte der Kleiderschrank die Schlafecke von der Küchenecke ab. Die kleine Küche war sehr einfach gehalten, bot aber alles, was man für einen kurzen Aufenthalt brauchte. Auch das in weiß gehaltene Duschbad war schlicht, erfüllte aber seinen Zweck.Von der Küche aus konnte man hinaus auf eine kleine Terrasse gehen. Der runde Tisch und die beiden Stühle waren jetzt allerdings unter einer durchsichtigen Schutzhaube verschwunden und dicht am Haus gestapelt. Sonny packte seine Tasche nicht aus, sondern holte nur heraus, was er brauchte. Er war müde, fühlte sich vollkommen erledigt und seine Augen brannten von der Anstrengung. Er beschloss ins Bett zu gehen. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.Ein Tag voller Überraschungen!
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ZWÖLF Donnerstagmorgen 11 UhrRico saß mit Alaina und Dylan in dem Bus, der über das Gelände der Universal Studios fuhr. Neben dem Fahrer stand ein junger Mann, der ihnen erklärte, was es zu sehen gab und der einige Hintergrundinformationen und Anekdoten lieferte.Rico hörte nicht zu. Seit er am Montag mit Sonny telefoniert hatte fühlte er eine wachsende Beunruhigung. Auf ihn hatte Sonny einen etwas konfusen Eindruck gemacht, auch wenn der Freund sich viel Mühe gegeben hatte seine wahren Gefühle hinter Coolness zu verbergen. Rico kannte Sonny lange genug, um herauszuhören, wie es dem Freund wirklich ging. Davon abgesehen würde jeder sich schlecht fühlen, der mitansehen musste, wie man seinen Freund oder seine Freundin erschoss.Ab und zu warf Rico Alaina und Dylan einen Seitenblick zu. Er hatte den beiden seit einigen Jahren versprochen, dass sie gemeinsam nach L. A. fliegen würden. Sie wären sehr enttäuscht, wenn er den Urlaub vorzeitig abbrach. Andererseits hatte er das Gefühl, dass Sonny ihn in New York brauchte.Während Alaina und Dylan sich eine Fahrt mit der Achterbahn „Revenge Of The Mummy“ gönnten, versuchte Rico Sonny auf dem Handy anzurufen. Am Montag hatten sie ja nur kurz miteinander geredet und Rico wollte jetzt lediglich hören, ob alles OK war. Vielleicht war die Sache ja längst gelaufen.Sonny ging nicht dran. Rico wartete, bis die Mailbox ansprang, dann legte er auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Er hätte wahrscheinlich nur wie eine überbesorgte Mutter geklungen und das wollte er nicht.Dylan wollte als nächstes unbedingt zu Jurassic Park – The Ride. Er hatte schon immer auf Dinosaurier gestanden und konnte fehlerfrei Triceratops sagen, ehe er den Namen seiner Schwester richtig aussprechen konnte. Rico ließ die Beiden allein fahren und versuchte noch zwei Mal Sonny anzurufen, ehe er Tanyas Nummer wählte. Er konnte es nicht erklären, aber er hatte einfach das Gefühl, er sollte jetzt nicht in L. A. sein sondern bei Sonny in New York.Das nenne ich eine Überraschung“, sagte Tanya, nachdem er sich meldete. „Ich dachte, Sie genießen Ihren Urlaub.“„Oh, ja, es ist toll“, antwortete Rico. „War mein Freund, Lieutenant Crockett von Miami Vice schon bei Ihnen? Ich habe schon mehrmals heute versucht ihn anzurufen, aber er geht nicht dran.“Tanya lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück. „Ja, er war hier, aber er verließ New York gestern gegen Abend.“ Rico atmete auf. „Dann ist der Fall also gelöst?“Tanya registrierte endlich, dass Rico sich um seinen Freund sorgte, dies aber nicht so offen zugeben wollte. Schließlich war Sonny Crockett alt genug, um keinen Babysitter mehr zu benötigen.„Nein, Lieutenant, der Fall ist nicht gelöst.“ Sie erzählte mit wenigen Worten, was sich am Vortag ereignet hatte, erwähnte den Angriff auf Sonny im Hotel, dass er Manuel Ricosta auf einem der Fotos als den Mörder seiner Freundin identifiziert hatte und gerade auf dieses Foto recht seltsam reagierte. „Eine Kollegin hörte zufällig mit, wie er mit jemandem namens Stan telefonierte, der ihm offensichtlich eine Adresse in Mountainside nannte. Ich war zu dem Zeitpunkt gerade nicht im Büro. Nancy sagte, er beendete das Telefonat mit Stan und verließ fast fluchtartig das Gebäude. Als ich ihn später anrief, erklärte er, er müsste dringend nach Mountainside fahren.“„Und das war gestern Abend?“ Rico hielt Ausschau nach dem Boot, in dem Alaina und Dylan unterwegs waren, um sich durch ein Gehege zu schlagen, in dem es angeblich Velociraptoren und einen ausgewachsenen T – Rex gab.„Ja“, bestätigte Tanya. „Ich habe einige Erkundigungen über diesen Ricosta eingeholt. Er wurde mehrmals in verschiedenen Bundesstaaten wegen verschiedener Dinge angeklagt, aber man konnte ihm nie etwas nachweisen. Am Ende gingen stets andere ins Gefängnis...“ Rico bemühte sich seine Besorgnis zu verbergen. „Das Wetter ist schlecht bei euch, stimmt´s?“, fragte er. Das Boot kehrte immer noch nicht zurück. Der Kampf gegen die Viecher der Urzeit dauerte anscheinend weiter an.„Schlecht ist gar kein Ausdruck“, schnaubte Tanya. „Die Flughäfen sind immer noch dicht, weil es schneller friert, als man den Frost von den Flugzeugen entfernen kann. Wir zählen im Moment etwa drei Mal so viele Unfälle wie normal und die Kollegen brauchen ungefähr vier Mal so lange wie sonst, um zu einer Unfallstelle zu gelangen.“„Dann erreiche ich Sonny sicher deshalb nicht.“ Rico wünschte Tanja noch einen ruhigen Arbeitstag und legte auf. Gedankenverloren starrte er auf das Handy. Natürlich glaubte er nicht, dass das schlechte Wetter Schuld hatte, dass er Sonny nicht erreichen konnte. Das Boot tauchte immer noch nicht auf. Spontan wählte Rico Stans Nummer. „Mann, das nenne ich eine Überraschung“, gestand Stan. „Ich dachte, du bist damit beschäftigt mit Sonny diesen Ricosta dingfest zu machen.“„Ich bin in L.A., New York geht im Schnee unter und Sonny ist unerreichbar“, fasste Rico die Tatsachen mit wenigen Worten zusammen. „Er hat gestern mit dir telefoniert, sagt meine Mitarbeiterin Tanya Murphy. Danach zog er aus dem Hotel aus und fuhr nach Mountainside. Worüber habt ihr geredet, Stan?“ Stan antwortete nicht sofort, aber Rico hörte, dass er mit jemand anderem sprach. Damit Rico nicht alles mitbekam, hatte er offensichtlich eine Hand über den Hörer gelegt, denn Stans Stimme klang sehr gedämpft.Ricos Ungeduld wuchs, aber er wartete, unruhig von einem Bein auf das andere tretend, bis Stan ihm wieder seine Aufmerksamkeit schenkte.„Sonny und seine Freundin Lynn Bendall wurden vor etwas mehr als einer Woche vor dem BELLEVUE beschossen...“„Das weiß ich bereits“, unterbrach Rico ihn, den Blick wieder auf das Wasser gerichtet. Alaina und Dylan sollten nicht unbedingt mitbekommen, dass er sich auch während des Urlaubs um berufliche Dinge kümmerte. Er hatte fest versprochen sich in diesen zwei Wochen nicht mit dem Büro in Verbindung zu setzen.„Sonny kam nach New York und nachdem er gestern Abend Manuel Ricosta auf einem Foto identifizierte, telefonierte er mit dir, ehe er seine Sachen packte und nach Mountainside fuhr. Seitdem ist er unerreichbar. Worum ging es in eurem Telefonat?“Stan holte tief Luft. „Um Lynn Bendall“, antwortete er. „Sie lebte erst seit drei Monaten in Miami. Wir suchten in ihren Papieren nach Hinweisen auf Verwandte und fanden eine Adresse in Mountainside.“„Kannst du mir die Adresse nennen, Stan?“, fragte Rico.Stan bejahte, und während er nach der Adresse suchte, erzählte er Rico, was er Sonny sagen wollte, aber nicht konnte, weil dieser einfach aufgelegt hatte.„Bist du noch dran?“, fragte er schließlich, weil Rico ihm gelauscht hatte, ohne ihn einmal zu unterbrechen„Ja“, erwiderte Rico. Er sah jetzt das Boot, in dem Alaina und Dylan saßen, zwischen den Bäumen auftauchen. In wenigen Minuten würden sie anlegen und dann würde Alaina herummaulen, weil er telefonierte.„Die Adresse ist: Hickory Lane 1829.“Rico bedankte sich bei Stan, versprach ihm sich zu melden, wenn er etwas Neues erfuhr, aber er bat Stan auch ihn anzurufen, falls Sonny sich in Miami meldete. „Mann, das war echt krass“, strahlte Dylan, als er aus dem Boot geklettert war. „Du hast was verpasst, Dad!“Rico lächelte, machte eine wegwerfende Handbewegung und antwortete: „Ich stand noch nie auf Dinosaurier.“ Dylan blätterte in dem Heft herum, das er am Eingang gekauft hatte. „Ich würde gern zu Fear Factor Live gehen. Hier steht, dass die Show mit Zuschauerbeteiligung aufgeführt wird. He, das ist sicher lustig.“„Da kannst du aber allein hingehen“, maulte Alaina. „Ich habe nicht vor mich zur Belustigung anderer Leute zum Affen zu machen.“Dylan stieß ihr unsanft den Ellbogen in die Seite. „Mann, du versaust einem auch jeden Spaß!“ Eine Familie mit zwei Jungen ungefähr in Dylans Alter überholten sie, während sie noch unschlüssig herumstanden. Der eine Junge sagte: „Ich will unbedingt zu Backdraft.“ Er raschelte mit dem gleichen Heft herum, das auch Dylan besaß und las: „Nach einer Einführung des Regisseurs Ron Howard dürfen die Gäste am eigenen Leib erfahren was es heißt, in einem brennenden....“Dylan konnte nicht verstehen, was der Junge sonst noch sagte, aber er blätterte sofort in seinem Heft herum, bis er die Stelle fand. „Oh, cool, das will ich machen!“, beschloss er. „Man wird in ein brennendes Lagerhaus eingeschlossen! Können wir dahin gehen, Dad?“ Mit einem Seitenblick auf Alaina fügte er hinzu: „Du musst es ja nicht machen, wenn du nicht willst, Angsthase!“ Eine halbe Stunde später war Rico wieder allein, weil Alaina und Dylan unbedingt beide in dieses Lagerhaus eingeschlossen werden wollten. Rico versuchte erneut Sonny anzurufen. Wieder nichts! Er dachte nach. Sonny war wegen Ricosta nach New York geflogen. Ricosta hatte es irgendwie herausgefunden und Sonny einen Schläger auf den Hals gehetzt, der ihn sicher töten sollte. Zum Glück war der Versuch misslungen, aber was war, wenn Ricostas Schläger Sonny Richtung Mountainside gefolgt war? Rico wählte eine Nummer. Er ließ sich mit dem Flughafen verbinden und fragte nach der nächsten Maschine nach New York. Die freundliche Dame am anderen Ende erklärte ihm, dass zurzeit keiner der drei Flughäfen geöffnet war. Man hoffte, dass sich die Lage bis morgen oder übermorgen zumindest so weit entspannte, dass es wieder möglich war dort zu starten oder zu landen.„Welche Alternative bieten Sie jemandem, der unbedingt nach New York muss?“, fragte Rico. Nur kurz dachte er daran, dass seine Ex – Schwägerin, bei der sie hier in L. A. wohnten, nicht begeistert sein würde, wenn er ihr erklärte, dass er ihr Alaina und Dylan da lassen würde, bis ihr Rückflug ging. Als Tante war Paula immer eine Katastrophe gewesen. Sie hatte auch nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie mit Kindern nichts anfangen konnte. Deshalb war es gut, dass sie keine eigenen Kinder hatte. „Ich kann Ihnen heute Abend um zwanzig vor zehn einen Platz in der Maschine nach Syracuse anbieten. Planmäßige Landung wäre um drei Uhr vierzig. Sie könnten versuchen, von dort aus mit einem Überlandbus...“„Wie steht es mit einem Mietwagen?“, unterbrach Rico sie. Er hatte keine Zeit für lange Erklärungen und außerdem befürchtete er, dass ein Überlandbus viel zu lange brauchen würde. Wieder war es einen Moment lang still in der Leitung. Dann sagte die Frau: „Ich könnte Ihnen über Avis einen Mietwagen anbieten, der am Flughafen für Sie bereit stünde. Den Schlüssel und die Papiere können Sie gegen Vorlage des Passes am Informationsschalter abholen.“„Bitte einen allradgetriebenen Wagen“, bat Rico. „In New York liegt mächtig viel Schnee.“Er gab ihr seinen Namen und alle anderen Daten, die sie für die Buchung brauchte und legte auf. Danach dachte Rico ernsthaft darüber nach, wie er Alaina und Dylan klarmachen sollte, dass er noch heute nach New York zurückfliegen würde
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DREIZEHNAuf der Fahrt zurück zum Haus seiner Schwägerin hatten weder Alaina noch Dylan mit Rico geredet. Dylan saß hinten im Wagen und starrte demonstrativ aus dem Fenster. Er hatte seinen MP 3 Player in die Ohren gestöpselt und hörte so laut Musik, dass Rico es hören konnte. Wahrscheinlich würde Dylan nachher taub sein.Alaina hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sich so weit wie möglich an die Tür gequetscht, wie um ihm zu zeigen, dass sie von so einem „Versprechensbrecher“, wie sie ihn genannt hatte, soviel Abstand wie möglich halten wollte. Sie hielt die Lippen zusammengepresst, als wollte sie sich unbedingt daran hindern versehentlich etwas zu sagen. Nachdem Rico ihnen erklärt hatte, dass er in einer sehr dringenden Angelegenheit zurück nach New York müsste, sie aber nicht mitnehmen könnte, hatte vor allem Alaina angefangen, hitzig mit ihm zu diskutieren. Es war ihr völlig egal gewesen, dass sie sich immer noch auf dem Gelände der Universal Studios befanden. Etliche Leute hatten sich auch prompt umgedreht, weil sie natürlich neugierig waren, aber auch, weil sie vermuteten, dass sie versehentlich mitten in irgendwelche Dreharbeiten hineingeraten sein könnten.Schließlich hatte Rico nur gezischt: „Es geht um Sonny, verdammt noch mal! Er ist einer meiner allerbesten Freunde und das seit langer Zeit! Kapier es oder lass es! Ich fliege um Viertel vor sieben, ob es dir passt oder nicht!“ Paula, seine Ex – Schwägerin, machte ebenfalls einen Riesenaufstand, der ihn sehr an seine Ex – Frau Suzanne erinnerte. Es war der Moment, in dem ihm klar wurde, warum er ursprünglich lieber in einem Hotel hatte wohnen wollen.Als er das Haus verließ und in das Taxi stieg, das ihn zum Flughafen bringen sollte, ließen sich weder seine Kinder noch Paula blicken, um ihn zu verabschieden. Rico war sich allerdings ganz sicher, dass Suzy über sein unverschämtes Verhalten Bescheid wissen würde, noch ehe er im Flugzeug nach Syracuse saß. Die Sonne knallte von einem strahlend – blauen Himmel herab, als Rico in Los Angeles ins Flugzeug stieg. Ein leichter Wind wehte, der sich anfühlte, als hielte ihm jemand einen Fön ins Gesicht. Während des ganzen Fluges dachte Rico an Sonny und er fragte sich, ob es dem Freund gut ging.Am Hancock International Airport in Syracuse zog Rico als erstes seinen warmen Mantel an, den er vorsorglich schon mit in die Maschine genommen hatte, damit er ihn später nicht erst suchen musste.Er ging zum Informationsschalter, zeigte seinen Ausweis vor und erhielt die Schlüssel für einen Range Rover, der in einer Haltebucht vor dem Flughafengebäude parkte. Ein eisiger Wind empfing ihn, als er das Gebäude verließ. Schnee wirbelte vom Himmel herab und er hörte einen jungen Mann zu seiner Begleiterin sagen: „Drinnen haben sie gesagt, dass dieser Flughafen, wenn das so weiter schneit, auch bald geschlossen werden muss.“Die Frau schnaubte. „Die Menschen fliegen bis auf den Mond, aber sind nicht in der Lage einen Flughafen von Eis und Schnee zu befreien.“ Rico ging grinsend zu dem dunkelgrünen Range Rover, warf seine Reisetasche und seinen Koffer auf den Rücksitz und stieg ein. Recht hatte die Frau. „Dann wollen wir mal!“, seufzte er, wohl wissend, dass keine lustige Fahrt vor ihm lag. Er hoffte nur, dass Crockett auf seiner Fahrt nach Mountainside nichts zugestoßen war. Für einen Südstaatler, der vermutlich noch nie im Schnee gefahren war, waren die Straßen besonders gefährlich. Er beschloss, sofort nach Mountainside zu fahren und programmierte das Navigationssystem. Da die Hickory Lane, in der Ms. Bendall wohnte, der einzige Straßenname war, den er in diesem Ort kannte, gab er sie ein. Es dauerte einen kleinen Moment, ehe die Route berechnet war. Dann seufzte Rico erneut. Vor ihm lagen 628 Meilen (etwa 1010 km) vereiste, schneebedeckte Straßen. Normalerweise war diese Strecke in vier bis viereinhalb Stunden zu bewältigen, aber nicht bei diesen Wetterverhältnissen. Rico schaltete das Radio ein, suchte nach einem Sender, der akzeptable Musik spielte, und machte sich auf den Weg.Der Schneefall nahm immer weiter zu, die Temperatur sank.Die Zufahrtsstraße zum Highway war glücklicherweise gut geräumt, aber sehen konnte Rico in dem dichten Schneetreiben kaum etwas. Deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Tempo niedrig zu halten. Als er nach über zwei Stunden endlich den Highway erreichte, verstummte die Stimme aus dem Navigationssystem, denn jetzt ging es erst mal nur geradeaus durch die Nacht. Er hoffte nur, dass es Crockett wirklich gut ging.
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VIERZEHN Donnerstagmorgen, neun Uhr Sonny hatte geschlafen wie ein Stein. Im ersten Moment, nachdem er die Augen aufschlug, dachte er, er hätte höchstens zwei oder vielleicht drei Stunden geschlafen, aber ein Blick auf seine goldene Armbanduhr machte ihm klar, dass er zehn Stunden geschlafen hatte. So viel schlief er sonst nie! Er schwang die Beine aus dem Bett und klopfte sich mehrmals leicht gegen das linke Ohr in der Hoffnung, das nervtötende piepen loszuwerden, aber es klappte nicht. Dann ging er zum Fenster und zog den dunkelbraunen Vorhang etwas zur Seite. Die weiße Pracht erschlug ihn beinah! Sonny entdeckte die eingemummte Gestalt, die abends auf der Schneefräse sitzend versucht hatte den Schnee zu beseitigen. Für Sonny sah es fast so aus, als wäre der arme Kerl auf dem Gerät festgefroren und würde deshalb weiter seine Runden drehen. – Und es schneite immer noch! „Guten Morgen“, wünschte Sonny freundlich. Maggie Elderidge strahlte ihn an. „Guten Morgen. Sie müssen Mr. Crockett aus Nummer zwölf sein.“ Sonny nickte. „Stimmt.“ Maggie strahlte ihn immer noch an. „Sie möchten sicherlich gern frühstücken.“ Sonny nickte. „Das wäre großartig, Ms. Elderidge.“ „Maggie“, korrigierte Ms. Elderidge. Wieder nickte Sonny. Er lehnte sich lässig gegen den Tresen, blickte Maggie offen an und sagte: „Ich bin auf der Suche nach einer Familie Bendall, die hier in Mountainside leben soll. Kennen Sie jemanden mit diesem Namen.“ Maggie nickte diensteifrig. „Oh, sicher. Ich bin schon hier geboren. Ich kenne jeden in Mountainside. Ms. Ruth Bendall wohnt in der Hickory Lane.“ „Und wie komme ich dorthin?“, wollte Sonny wissen. Maggie dachte kurz nach. Dann erklärte sie: „Fahren Sie die New Providence Road zurück, als ob Sie zur 22 wollten, aber vorher biegen Sie links ab. Das ist... – ehm – die zweite Straße auf der linken Seite, die Birch Hill Road. Dann biegen Sie wieder in die zweite Straße links ab. Dann sind Sie schon in der Hickory Lane. Ruth hat Hausnummer 1829.“ Sonny bedankte sich und ging in den Speiseraum hinüber. Eine dreiviertel Stunde später hatte er sein Frühstück beendet und saß im Wagen. Er war sehr neugierig auf das, was Lynns Mutter ihm erzählen würde. – Falls sie Lynns Mutter war. Einen Mr. Bendall gab es jedenfalls nicht, wie Maggie ihm erzählt hatte. Er war im letzten Jahr gestorben. Sonny folgte der Wegbeschreibung, die Maggie extra noch mal wiederholt hatte, als er das Gebäude verlassen wollte. Der Mann mit der Schneefräse fuhr weiterhin auf dem Grundstück herum und räumte die Wege, während es von oben munter schneite. Sonny rutschte mehrmals aus und wäre um ein Haar gestürzt, fing sich aber im letzten Moment wieder. Die New Providence Road war gut geräumt, was man von der Birch Hill Road nicht behaupten konnte. Als Sonny in die Hickory Lane abbog, rutschte das Heck des Wagens weg. Er konnte überhaupt nichts dagegen tun und nur auf den Knall warten, der sicherlich gleich folgen würde. Es knirschte jedoch nur heftig, als er gegen einen Schneehaufen rutschte. Glück gehabt! Schließlich entdeckte er Haus Nummer 1829. Es stand in einer Reihe ähnlich aussehender Häuser. Es war zweigeschossig und etliche Meter von der Straße zurück gesetzt gebaut worden. Etliche hohe Sträucher, die vor langer Zeit in den Vorgarten gepflanzt worden waren, verdeckten einen Großteil der Sicht auf das Haus. Sonny wäre sicherlich daran vorbeigefahren, hätte nicht an der Straße auf einem großen, silberfarbenen Briefkasten in dicken, schwarzen Zahlen die 1829 geprangt. Sonny stellte den Wagen am Straßenrand ab. Er ließ zwei Fahrzeuge passieren, ehe er ausstieg und beeilte sich dann auf den Gehweg zu gelangen, weil drei weitere Autos die Straße entlang kamen. Jemand hatte einen schmalen Weg von der Straße bis zur Eingangstür und die Einfahrt zur Garage freigeschaufelt. Mit den Händen tief in den Taschen vergraben, stapfte Sonny den Weg entlang zur Haustür. Die Äste der Sträucher bogen sich unter der glitzernden Schneelast, lange Eiszapfen hingen vom Dach herab. Um ihn herum knirschte und krachte es. Ein Blick nach rechts und links zeigte ihm, dass alle Nachbarn ihre Häuser und Vorgärten weihnachtlich geschmückt hatten. Ruth Bendalls Haus schien dagegen nackt zu sein. Er sah keine Lichterketten, keine blinkenden Rentiere oder Weihnachtsmänner. Man hätte denken können, dass Weihnachten in diesem Haus nicht stattfand. Sonny vermutete, dass man Ms. Bendall bereits über Lynns Tod informiert hatte. Dazu kam, dass Mr. Bendall erst vor einem Jahr gestorben war. Ms. Bendall hatte nicht den geringsten Grund Weihnachten zu feiern. Sonny läutete. Da drinnen erst mal alles still blieb, befürchtete er bereits, Ms. Bendall wäre nicht zu Hause. Wenn Stan sie angerufen hatte, befand sie sich vielleicht längst in Miami, um Lynn zu identifizieren. Darüber hatte er gestern überhaupt nicht nachgedacht. Außerdem fiel ihm plötzlich ein, dass Stan ihm irgendetwas hatte sagen wollen, das er abblockte, indem er unhöflicherweise einfach das Gespräch beendete. Drinnen tat sich etwas. Er hörte eine Tür klappen, dann Schritte, die sich der Haustür näherten. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, ehe die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde. Sonny hielt seine Dienstmarke bereits in der Hand, damit Ms. Bendall nicht glaubte, er wolle ihr irgendwas verkaufen. Ruth Bendall mochte um die siebzig sein. Sie war eine kleine, zierliche Frau mit weißen Haaren und blauen Augen. Die Haut in ihrem Gesicht erinnerte Sonny an Aufnahmen vom Grand Canyon, auch wenn Ruth Bendall alles versucht hatte, um die vielen Falten und Fältchen mit Make – Up zu überdecken. Sie trug eine schwarze Jogginghose und einen ebenfalls schwarzen Rollkragenpullover. „Ja, bitte?“, fragte sie neugierig und distanziert zugleich. Sonny hielt ihr seine Dienstmarke hin. „Entschuldigen Sie die Störung, Ms. Bendall“, sagte er. „Ich bin Lieutenant Crockett von Miami Vice. Ich möchte Ihnen mein Beileid wegen Lynn aussprechen und würde gern mit Ihnen über die Umstände reden, die zu ihrem Tod geführt haben. Ich... – war mit Lynn zusammen, als es passierte.“ Ruth Bendalls Gesicht verlor unter der Schminke alle Farbe. Sie holte tief Luft, blickte abwechselnd zwischen Sonnys Gesicht und dessen Dienstmarke hin und her, und sagte: „Vielleicht sind Sie Polizist, Mr...“ „Crockett“, kam Sonny ihr zur Hilfe. Ruth Bendall nickte. „... Mr. Crockett“, beendete sie ihren Satz, „aber eins weiß ich ganz genau: Als meine Tochter starb, waren Sie ganz sicher nicht bei ihr, denn Lynn starb 1986.“
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FÜNFZEHN Roberto Vilacon hatte in der letzten Zeit etwas Pech gehabt und das hatte ihn eine Menge Pluspunkte bei seinem Boss gekostet. Dass die Sache in Miami nicht so geklappt hatte wie geplant, schob sein Boss natürlich ihm in die Schuhe. Dabei hatte Roberto nur den Wagen gefahren, geschossen hatte der Boss höchstpersönlich. Aber so lief das: Wer die Kohle hatte, bestimmte wer der Dumme war, und der Dumme bekam immer einen Tritt... – wenn er Glück hatte! Hatte er Pech bekam er eine Kugel oder Betonschuhe. Dass Crockett überlebt hatte, fanden sie aber erst heraus, als Roberto in New York aus der Reinigung kam und Crockett in dem Klamottenladen verschwinden sah. Im ersten Moment hatte er gedacht, es müsste sich um einen Doppelgänger handeln. Deshalb war er dem Mann in den Laden gefolgt, aber er war sich ganz sicher gewesen, dass es Lieutenant Sonny Crockett war. Als er Manuel Ricosta die Neuigkeit mitteilte, war dieser ausgeflippt und hatte eine sündhaft teure Vase aus Bleikristall nach ihm geworfen, ihn aber zum Glück verfehlt. „Sorg dafür, dass Crockett in die Hölle fährt! ,“hatte Ricosta angeordnet. Roberto war ihm gefolgt, hatte den Mann nicht aus den Augen gelassen und gesehen, wie er mit dieser Bullen – Tussi in den Club Delirious marschierte. Er war den Beiden gefolgt, hatte sich an den Nebentisch gesetzt und gelauscht. Für das, was Paulie passiert war, trug aber nicht er die Verantwortung, sondern Giorgio. Roberto hatte nachts Crockett in dessen Hotelzimmer besucht und geglaubt, er hätte dem Mann wirklich den Rest gegeben, aber er hatte sich geirrt. Der Kerl war zäh wie altes Schuhleder! Ricosta war das egal. Er wollte, dass Crockett starb. „Und wenn du ihm nicht in der Hölle Gesellschaft leisten willst, dann lass dir endlich etwas einfallen!“, hatte er gebrüllt, als Roberto ihm mitteilen musste, dass Crockett den Angriff im Hotelzimmer überlebt hatte. Und dann hatte er Crockett aus den Augen verloren! Roberto konnte nicht sagen, wann Crockett das Polizeipräsidium verlassen hatte. Er sah nur plötzlich Detective Murphy allein aus dem Gebäude kommen. Er hatte gewartet, in der Hoffnung, dass Crockett später auftauchte, aber das war nicht passiert. Schließlich war er zu dem Hotel gefahren, in dem der Mann wohnte, um festzustellen, dass das Zimmer gerade gereinigt wurde. Crockett war ausgezogen! Als abends sein Boss anrief blieb ihm keine andere Wahl, als zu gestehen. „Morgen Mittag hier bei mir!“, hatte Ricosta nur in den Hörer gezischt und aufgelegt. Auf dem Weg dorthin war Roberto nun und er war sehr besorgt, denn der letzte Ort, an den er heute geschickt werden wollte, war die Hölle. Genau das konnte ihm aber passieren. Da es genau vor seinen Augen auf der New Providence Road einen Unfall gegeben hatte, der beide Fahrbahnen blockierte, beschloss Roberto einen Umweg über die Nebenstraßen zu fahren. Er durfte nicht auch noch zu spät kommen! Leider verfolgte ihn sein Pech anscheinend weiter, denn am Steuer des Wagens vor ihm saß eine Person, die entweder ein Fahranfänger, sehr ängstlich oder alt war. In jedem Fall war der Wagen extrem langsam. Roberto fluchte. Während er gerade darüber nachdachte, wie er seinem Boss am besten glaubhaft erklärte, warum er Crockett aus den Augen verloren hatte, sah er ihn! Er hatte gerade seinen Wagen am Straßenrand geparkt und stieg aus, wobei er sich beeilte, um von der Straße weg auf den Gehsteig zu kommen. Eigentlich hatte Roberto über die lahme Ente geschimpft, die im Schneckentempo vor ihm her schlich, jetzt war er froh über den langsamen Fahrer. Das gab ihm die Chance zu sehen, wohin Crockett ging. „Hickory Lane 1829“, murmelte er grinsend. Er fuhr bis um die nächste Kurve herum, hielt an der Seite an und wählte eine Nummer. „Ich bin´s“, sagte er. „Crockett ist in Mountainside. Hickory Lane 1829.“
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SECHZEHN Sonny starrte Ms. Bendall ungläubig an. Dann schüttelte er den Kopf und stammelte: „Das... das kann nicht sein! Ich ... ich war mit ihr... zusammen...! Ich meine, vor... vor einer Woche! Sie... wurde erschossen!“ Ms. Bendall blickte ihn an, ehe sie die Tür schloss, die Kette rasselnd zur Seite schob und die Tür wieder öffnete, um ihn einzulassen. Sie ging vor Sonny her in ein überladen wirkendes Wohnzimmer, in dem die Teppiche doppelt übereinander lagen und jede Ecke vollgestellt war. Ms. Bendall liebte offensichtlich Eulen und sie besaß sie in allen Variationen – von lebenden abgesehen natürlich. Vasen und Schalen mit Eulenmotiv darauf, eine „Übertopf – Eule“ thronte auf der Fensterbank, in einem Eulengefäß warteten Schokoladenbonbons auf ihren Verzehr. Es gab eine Eulen – Wandlampe, Kissen und Tischdecken mit gestickten Eulen darauf und sogar einen Eulenteppich. An den Wänden dominierten jedoch eindeutig Fotos von Lynn, angefangen im Babyalter bis zum Alter von sechzehn oder siebzehn Jahren. Sonny trat auf die Fotos zu, um sie genauer zu betrachten, während Ms. Bendall eine weitere Schale mit Eulenmotiv aus einem Eichenschrank nahm, um sie mit selbstgebackenen Keksen zu füllen. „Das ist Lynn“, sagte sie überflüssigerweise. „Sie war ein süßes Baby und ein bildhübsches Mädchen.“ Sonny ging von einem Foto zum nächsten. Er war vollkommen verwirrt. Er sah ein Teenagerfoto, das in diesem Wohnzimmer aufgenommen worden war. Lynn, etwa sechzehn Jahre alt, saß, in Jeans und einem rosafarbenen T – Shirt, auf dem Sofa und las in einem Buch. Sie hatte den Blick nur leicht gehoben und lächelte in die Kamera. Das war die Lynn, die er kannte! Auf dem nächsten Foto, das sie zeigte, als sie eben auf der Fahrerseite aus dem Auto ausstieg, und auf dem sie nur wenig älter sein mochte, sah sie hingegen wie eine Fremde aus. Hinter ihm klapperte Ms. Bendall mit Geschirr herum und plötzlich stieg Sonny auch Kaffeeduft in die Nase. Er war so sehr in die Fotos vertieft gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie Ms. Bendall in die Küche gegangen war, um Kaffee aufzubrühen. Wenig später saßen sie gemeinsam an dem niedrigen Wohnzimmertisch aus Eichenholz. Vor ihnen dampfte der Kaffee in Tassen mit Eulenmotiv und in der Tischmitte thronte die Schüssel mit den selbstgebackenen Keksen. Neben Ms. Bendall lag ein dunkelgrünes Fotoalbum. „Ich verstehe das nicht“, gestand Sonny. „Sie sagte mir, ihr Name wäre Lynn Bendall und ich hatte keinen Grund daran zu zweifeln.“ Sonny wies auf die Fotos an den Wänden. „Auf einigen Bildern glaube ich sie wiederzuerkennen, auf anderen erscheint sie mir vollkommen fremd.“ „Meine Lynn ist schon sehr lange tot, Mr. Crockett“, sagte Ms. Bendall leise. Sie faltete die Hände im Schoss und senkte den Blick auf die ineinander verschlungenen Finger. „Sicher gibt es noch mehr Frauen mit diesem Namen, aber wenn Sie sagen, dass Sie Ihre ermordete Freundin auf einigen Fotos wiederzuerkennen glauben...“ Sie entknotete ihre Finger und schlug das Album auf, blätterte die Seiten jedoch langsam um, obwohl sie sicherlich wusste, wo sie fand, wonach sie suchte. „Als Lynn etwa fünf Jahre alt war, zogen neue Leute in das gegenüberliegende Haus. Die Mallinders hatten zwei Töchter, Chelsea und Andrea. Chelsea, die ältere der beiden, sah aus wie meine Lynn nur mit blonden Haaren.“ Ms. Bendall hob den Blick. „Die Ähnlichkeit war wirklich unglaublich. Die Beiden verstanden sich auch auf Anhieb. Sie wurden die besten Freundinnen und als sie älter wurden, nutzten sie ihre Ähnlichkeit gern aus, um sich als Zwillinge auszugeben.“ Sie lächelte, als sie an damals dachte. „Sie kauften sich die gleichen Sachen, trugen den gleichen Haarschnitt und Chelsea ließ sich die Haare dunkel färben. Manchmal fiel es sogar mir schwer sie auseinander zu halten, wenn sie gemeinsam die Straße entlang kamen. Können Sie sich das vorstellen? Ich meine, ich bin Lynns Mutter!“ Sonny hatte ihr zugehört, langsam seinen Kaffee getrunken und von den hervorragenden selbstgebackenen Keksen gegessen, die sie ihm angeboten hatte. Jetzt lächelte er ebenfalls, kam dann aber auf die Frage, die ihn am meisten interessierte. „Dan hieß die Frau, die vor etwas mehr als einer Woche in Miami starb, also Chelsea Mallinder?“ Einen Moment lang war es still im Raum. Sonny hörte in der Ferne die Sirene eines Rettungswagens, die an – und abschwoll und sich entfernte, und draußen knackte es laut, als ein Ast unter der Schneelast brach. „Ich weiß es nicht, Mr. Crockett“, gestand Ms. Bendall schließlich. „1985 erkrankte Lynn an Krebs. Chelsea verbrachte jede freie Minute bei ihr und die beiden malten sich aus, wie es sein würde, wenn Lynn wieder gesund wäre und sie in den Süden ziehen würden. Das war Lynns größter Wunsch...“ Sonny dachte wieder an den Abend im BELLEVUE, als Lynn – oder Chelsea? – sagte: „Vor kurzem fasste ich endlich den Mut vom einen Ende des Landes ans andere zu ziehen. Schon als Kind war es mein Wunsch dort zu leben, wo immer die Sonne scheint.“ „...viele Poster und Fotos von Südseeinseln,“, sagte Ms. Bendall und Sonny merkte, dass er nicht richtig zugehört hatte. „Sie hängen alle noch oben in Lynns Zimmer. 1987 starb Lynn. Da war sie siebzehn. Chelsea verließ Mountainside drei Jahre später. Ab und zu besuchte sie ihre Eltern und die kleine Schwester, aber nachdem diese wegzogen, irgendwann Mitte der neunziger Jahre, habe ich Chelsea nicht mehr gesehen.“ Sonny zeigte ihr das Foto, das er im Präsidium ausgedruckt hatte. Ms. Bendall betrachtete es eine ganze Weile, ehe sie es Sonny zurück gab und erklärte: „Die Frau könnte Chelsea sein. Sie besaß unglaublich blaue Augen.“ Sonny nahm das Foto und betrachtete es. „Was ich nicht verstehe, ist, warum benutzte Chelsea den Namen ihrer Freundin, als sie nach Miami kam? Warum hat sie mich belogen?“ Ms. Bendall schenkte ihm ein kleines, trauriges Lächeln. „Sie sind der Polizist, Mr. Crockett. Das herauszufinden, ist Ihre Aufgabe.“ Sonny nickte. Er stand auf, bedankte sich für den Kaffee, die hervorragenden Kekse und die Zeit, die Ms. Bendall ihm geschenkt hatte. Als Sonny das Haus verließ hatte es aufgehört zu schneien. Rings herum krachte und knackte es und es war zu vermuten, dass weitere Äste unter der Schneelast abbrechen würden. Sein Blick wanderte zum Himmel empor. Die schweren, anthrazitfarbenen Wolken verhießen weiteren Niederschlag. Es war wohl am besten, wenn er auf dem schnellsten Weg zurück zum Hickory Hill Restaurant und Motel fuhr, um dort, in seiner, trockenen, warmen Unterkunft darüber nachzudenken, wie es nun weitergehen sollte. Sonny sah nicht die Gestalt, die sich an der Hausecke herumtrieb und ihm nachblickte, als er in den Mietwagen stieg. Als er jedoch losfuhr, bemerkte er den Wagen, der sich an ihn hängte. „Verdammt!“, murmelte er. „Wie haben die mich denn gefunden?“ Dann aber gab er Gas!
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SIEBZEHN Rico hatte sich vorwärts gekämpft. Meile um Meile war hinter ihm zurückgeblieben, während der Schnee pausenlos vom Himmel fiel. Im Radio hatte der Moderator davon gesprochen, dass möglicherweise ein Jahrhundertwinter vor der Tür stand. „In Elisabeth im Staat New Jersey fiel heute Abend der Strom aus, weil mehrere Masten unter den Schneelasten zusammengebrochen sind. Nachdem der erste Mast nachgab, bat Bürgermeister Chris Bollwage die Anwohner zu Hause zu bleiben und sich alles für den Notfall zurechtzulegen“, sagte der Moderator.

Um acht Uhr legte Rico in New Milford eine Pause ein, um einen Kaffee zu trinken und etwas zu essen. Er fühlte sich ausgepowert. Das Fahren im Schneetreiben war sehr anstrengend und seine Augen brannten. Er versuchte erneut Sonny anzurufen, aber wieder ohne Erfolg. Entweder wollte der Freund nicht ans Telefon gehen oder das Handy hatte tatsächlich keinen Empfang. Im Endeffekt spielte es aber keine Rolle, denn beides gab Anlass zur Sorge. Nach einer halben Stunde – und drei vergeblichen Anrufversuchen – setzte Rico seinen Weg fort. Es schneite nicht mehr so sehr, aber Rico ließ sich nicht täuschen. Die schweren, dunklen Wolken am Himmel hingen voller Schnee, der heute noch fallen würde. Bei Clarks Summit erklärte ihm die Blechstimme, er müsste sich rechts halten, um auf die 380 zu gelangen. Ihr hieß es zu folgen, bis er auf die 80 abbiegen konnte. In der Nähe von Cedar Knolls fand Rico eine Raststätte, wo er sich einen Kaffee gönnte und erneut versuchte Sonny anzurufen. Nichts! „Verdammt, Crockett, warum gehst du nicht dran?“, fluchte er. „Nimm endlich den verdammten Hörer ab!“ Aber Sonny reagierte nicht. Rico rief Tanya an, aber sie konnte ihm nichts Neues sagen. Sonny hatte sich nicht, wie versprochen, bei ihr gemeldet. „Ich bin jetzt in der Nähe von Cedar Knolls“, erklärte Rico. „Ich hoffe, dass ich in zwei Stunden Mountainside erreiche. Können Sie für mich nachsehen, ob es dort ein Motel gibt?“ „Sicher“, entgegnete Tanya. „Einen Moment.“ Sie war nicht erstaunt darüber, dass ihr Boss L.A. verlassen hatte, um seinem Freund zur Hilfe zu eilen. Gewundert hätte es sie, wenn er sich nicht ins nächste Flugzeug gesetzt hätte. Tanya nannte ihm die Adressen eines Motels namens Summerhill und einer anderen Unterkunft namens Hickory Hill Restaurant und Motel. Rico bedankte sich, beendete das Gespräch und setzte seinen Weg fort. Seine Sorge um Sonny wuchs. Während der Fahrt dachte er andauernd darüber nach, warum Sonny nicht ans Telefon ging. Als unverbesserlicher Optimist redete er sich ein, dass es Sonny gut ging und er das Handy lediglich auf lautlos gestellt hatte, weil er nicht mit seinen Freunden reden wollte. Sonny wusste nur zu gut, dass Rico wie auch Stan versucht hätten ihm diesen Alleingang auszureden. Schließlich hatte Sonny gerade einen Krankenhausaufenthalt hinter sich und der Überfall im Hotel in New York hatte ihn sicher weiter geschwächt. Stans Information über Lynn Bendall schoss durch Ricos Kopf. Er vermutete, dass Sonny entweder schon bei Ms. Bendall gewesen war oder noch heute zu ihr fuhr. Er hatte ja keine Ahnung, dass seine Freundin eine Betrügerin gewesen war. Rico beschloss zuerst zu Ms. Bendall zu fahren. Falls Sonny sie bereits besucht hatte, konnte die Frau ihm vielleicht sagen, wohin er sich wenden musste, um seinen Freund zu finden. Falls er noch nicht dort gewesen war, konnte er eventuell auf ihn warten. Es war fast zwei Uhr, als Rico von der New Providence Road nach rechts in die Birch Hill Road einbog, von der die Hickory Lane abzweigte. „1829“, murmelte er, während sein Blick von rechts nach links schweifte, bis er den silberfarbenen Briefkasten entdeckte, der auf einem Holzpfahl am Straßenrand stand. Fast an der gleichen Stelle wie zweieinhalb Stunden zuvor Sonny parkte Rico den Wagen und stieg aus. Es war still in der Straße. Er sah den frisch aufgehäuften Schnee am Straßenrand und den Split, der darauf hinwies, dass der Schneepflug vor kurzem hier durch gekommen war. Im Vorgarten des Hauses, das der Nummer 1829 gegenüberstand, hatten Kinder einen riesigen Schneemann gebaut und ihm einen feuerroten Kochtopf aufgesetzt. Rico ging zur Haustür von 1829. Wie zuvor Sonny fiel auch ihm auf, dass es an diesem Haus keinerlei weihnachtlichen Schmuck gab. Er musste um den großen, abgebrochenen Ast einer Magnolie herum gehen. Die Bruchstelle war noch ganz frisch. Rico ging zur Haustür, aber noch ehe er klingeln konnte fiel ihm auf, dass die Haustür nicht geschlossen war. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Niemand ließ bei diesen Temperaturen die Haustür offen. Vorsichtig drückte Rico die Tür auf und warf einen Blick in die Diele. „Hallo?“, rief er, aber dann drang ein unverkennbarer Geruch in seine Nase und er wusste, dass Ms. Bendall seine Fragen nicht beantworten würde.
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ACHTZEHN Nach den ersten Metern fuhr das Verfolgerfahrzeug gegen sein Heck. Der Jeep machte einen Satz nach vorne und Sonny knallte gegen das Lenkrad, weil er noch nicht angeschnallt war. Er fluchte, während er gleichzeitig das Gaspedal durchtrat. Der Wagen schoss nach vorne, schlingerte, rutschte, riss einen Briefkasten in Form eines großen, silbernen Hahns um und fuhr um Haaresbreite an einem Pajero vorbei, der am Straßenrand parkte. Durch den Unfall am Vortag hatte Sonny gelernt, dass es besser war, die Bremse nicht bis zum Anschlag durchzutreten. Es war jedoch schwierig den Wagen auf die Straße zurückzulenken, wenn der Hintermann dauernd schubste. Als es Sonny fast gelungen war den Jeep auf die Straße zurück zu bringen, warf er einen schnellen Blick über die linke Schulter. Im Verfolgerfahrzeug saßen natürlich zwei Leute und der Beifahrer hatte das Fenster heruntergelassen, um auf Sonny schießen zu können. Der erste Schuss pfiff haarscharf vorbei, traf aber den Außenspiegel, der mit einem dumpfen Laut in Tausende winzig kleiner Scherben zerbrach. „Einen Spiegel kaputt machen bringt sieben Jahre Unglück, Freundchen,“ knurrte Sonny. Er raste um eine Kurve, rutschte erneut und schlidderte knapp an einem Laternenmast vorbei. Im gleichen Moment zerfetzte der zweite Schuss die Heckscheibe. Die Kugel sauste durch den Wagen und blieb in der Kopfstütze des Beifahrersitzes stecken. Sonny entdeckte eine Frau, die mit ihrem Schäferhund an der Straße entlang ging. Sie hörte die beiden Fahrzeuge kommen und drehte sich um. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und sie erstarrte regelrecht. Der Hund fing wütend an zu bellen. Im Rückspiegel sah Sonny, dass der Schütze im Wagen hinter ihm auf den Hund anlegte. „Tu - das - nicht!“, zischte Sonny. Der Mann hörte es natürlich nicht. Er schoss, verfehlte den Hund aber zum Glück. Die Frau schrie auf. Ihre Erstarrung löste sich und sie floh, soweit Sonny es noch sehen konnte, in den nächstbesten Garten. Vor Sonny tauchte eine Kreuzung auf. Spontan beschloss er nach links abzubiegen, um die New Providence Road zu erreichen. Wohin er sich dann wenden wollte, wusste er noch nicht, aber solche Sachen entschied er sowieso am liebsten spontan. Immer wieder wanderte sein Blick in den Rückspiegel. Die gesplitterte Heckscheibe erschwerte es natürlich erheblich etwas zu sehen. In einem unaufmerksamen Moment touchierte Sonny den Bürgersteig. Es fühlte sich an, als wäre ein Gummiball gegen die Bande geschlagen. Aus der Heckscheibe fielen weitere Splitter heraus, sodass seine Sicht nach hinten immer freier wurde. Der Wagen wurde nach links geworfen, rutschte mit dem Heck herum, bis er entgegen der Fahrtrichtung stand. Ein dumpfer Knall zeigte ihm, dass er irgendwo gegen gestoßen war, aber darauf konnte er nun keine Rücksicht nehmen. Er gab Gas. Die Räder drehten zuerst durch, packten dann aber und Sonny schoss mit wilder Entschlossenheit im Gesicht auf seine Verfolger zu. Es erinnerte ihn an eine Verfolgungsjagd in Miami, in der er es genauso gemacht hatte. Er war mit seinem Testarossa geradewegs auf die Verfolger zu gefahren und erst im allerletzten Moment ausgewichen, während der andere Wagen gegen eine Mauer knallte. Ob es dieses Mal ebenso gut klappen würde, vermochte er nicht zu sagen, denn es war etwas anderes, ob man so ein Manöver auf einer normalen Straße fuhr oder auf einer, die mit Schnee bedeckt war. Sonny sah die entsetzten Gesichter der Männer in dem anderen Wagen. Der Beifahrer starrte ihn an, ehe er sich darauf besann, dass er eine Waffe in der Hand hielt. Als er sich aus dem Fenster beugte, um auf Sonny zu schießen, konnte dieser an der Mundbewegung des Fahrers sehen wie dieser brüllte: „Bist du verrückt?“ Der Beifahrer zog sich ins Wageninnere zurück, während die beiden Autos sich näher und näher kamen und der Himmel wieder anfing massiv mit Schnee zu werfen.
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NEUNZEHN Rico ließ Vorsicht walten. Irgendjemand war in dieses Haus eingedrungen und hatte Ms. Bendall –ob sie einen Ehemann besaß wusste Rico nicht – wahrscheinlich tödlich verletzt. Vielleicht hielt der Mörder sich noch im Haus auf und wartete nun, da er wusste, dass jemand an der Tür war, darauf, dass Rico ins Haus kam. Leise öffnete Rico die Tür weit genug, um sich durch den Spalt in die Diele drängen zu können. Er lauschte mit angehaltenem Atem, aber alles blieb still. Mit einem schnellen Blick orientierte er sich. Die Diele war wie ein Schlauch, der die einzelnen Räume miteinander verband. Neben ihn an der Wand stand ein Garderobenschrank, an dem drei Frauenjacken hingen. In einer Nische in der gegenüberliegenden Wand lag ein blauer Müllsack auf dem Boden, auf dem ein Paar Winterstiefel und ein Paar gefütterte Gummistiefel standen. Beides eindeutig Frauenstiefel. Nichts deutete darauf hin, das auch ein Mann hier lebte. Rico schlängelte sich an dem Garderobenschrank vorbei zur ersten Tür. Mit einem schnellen Blick erkannte er, dass es sich um das Wohnzimmer handelte. Geradeaus gab es zwei Türen, rechts drei. Vermutlich führte eine der Türen auf der rechten Seite in den Keller. Rico eilte auf leisen Sohlen am Wohnzimmer vorbei auf die beiden Türen zu, die der Haustür gegenüberlagen. Er wollte sich unbedingt zuerst vergewissern, ob sich der Täter noch im Haus aufhielt, um eine Überraschung zu verhindern. Die linke Tür führte in eine große Küche mit Zugang zum Garten. Die Küche war mit dunklen Holzmöbeln eingerichtet und besaß eine Arbeitsplatte aus hellem Marmor, die sich bis über die Küchentheke zog. Niemand war hier. Rico warf einen schnellen Blick in den Arbeitsraum, der an die Küche grenzte. Als er gerade in die Diele zurückkehren wollte, um die anderen Räume zu inspizieren, hörte er einen winzigen Laut. Er war so leise, als ob der Wind seufzte, schien aber aus Ms. Bendalls Wohnzimmer zu kommen. Rico öffnete die Tür, die von der Küche direkt ins Wohnzimmer führte... – und da sah er sie! Sie lag halb auf der Seite auf dem Berberteppich, der sich von ihrem Blut rot verfärbt hatte. Das Gesicht hatte sie der Küche zugewandt und ihre Augen waren offen. Die Lider flatterten, als kostete es die alte Dame eine ungeheure Anstrengung sie offen zu halten, aber sie war eindeutig am Leben. „Oh, mein Gott!“, flüsterte Rico. Er vergaß seinen ursprünglichen Plan, eilte zu Ms. Bendall und kniete neben ihr nieder. Seine Hand tastete nach dem Puls an ihrem Hals, wobei er vorsichtig sein musste, denn der Täter hatte versucht ihr die Kehle durchzuschneiden. Zum Glück war es misslungen, warum auch immer. Ms. Bendalls Puls war schnell wie der eines kleinen Vogels und sehr unregelmäßig. „Halten Sie durch, ich hole Hilfe!“, versprach Rico, riss sein Handy aus der Tasche und wählte die 911. Er hörte das Aufheulen eines Motors, dann raste ein Jeep die Straße entlang. Der Täter! Rico rannte zum Fenster, in der Hoffnung, dass er sich wenigstens ein Teil des Kennzeichens merken konnte, aber der Wagen war sehr schnell und schlingerte immer wieder. Dann war er fort. In der nächsten Viertel Stunde hatte Rico alle Hände voll damit zu tun Ms. Bendall nach Anweisung per Telefon Erste Hilfe zu leisten. Auf der Suche nach geeigneten Materialien, mit denen er die Wunde versorgen und abdecken konnte, riss er sämtliche Schränke auf und einiges aus ihnen heraus. Immer wieder redete er mit Ms. Bendall, sprach ihr Mut zu und flehte sie an durchzuhalten. Endlich hielt mit jaulenden Sirenen der Rettungswagen vor dem Haus, gleich dahinter kam ein Polizeiwagen zum Stehen. Zwei Sanitäter eilten auf das Haus zu, während die beiden Polizisten, ein korpulenter Weißer mit einem Schnäuzer, und ein großer, schmaler Afro – Amerikaner, erst ihre Waffen zurechtrückten. Rico trat zurück, als die Sanitäter hereinkamen. Sie fragten ihn, was passiert war und während Rico ihnen erzählte, was er wusste, kamen die Polizisten herein. Sie lauschten ebenfalls. „Ich bin Sheriff Jay Brody“, sagte der weiße Polizist schließlich. „Das ist Jimmy Charles. Können Sie sich ausweisen, Mister?“ Rico zog seinen Dienstausweis aus der Innentasche seines Mantels. Auf dem Weg nach L.A. hatte er zufällig bemerkt, dass er den Ausweis noch in der Tasche hatte. Es hatte in geärgert, dass er vergessen hatte ihn herauszunehmen. Jetzt musste er darauf Acht geben, dass man ihm den Ausweis nicht stahl oder er ihn verlor. Jetzt war er froh, dass er ihn dabei hatte. „Ich bin Lieutenant Ricardo Tubbs von der Mordkommission Bronx“, sagte er, lässig seinen Ausweis aufklappend. Jay Brody zog erstaunt seine Augenbrauen in die Höhe. „In welcher Mission sind Sie hier, Lieutenant Tubbs?“, fragte er. „Dienstlich?“ Rico beschloss, dass es besser war dem Mann nicht die Wahrheit zu sagen. Er wollte Sonnys Namen nicht erwähnen, weil er befürchtete, die Polizei könnte ihn als potenziellen Täter betrachten und den Falschen jagen. „Ja und Nein,“, antwortete er. „In Miami wurde eine junge Frau ermordet, die sich Lynn Bendall nannte. In ihren Papieren fand man diese Adresse...“ „Lynn Bendall?“, fiel Jimmy Charles ihm erstaunt ins Wort. „Lynn ist 1987 gestorben! Ich kannte Lynn. Wir sind zusammen zur Schule gegangen...“ Jimmy grinste. „Ich war damals in sie verliebt, aber ich hab´s ihr nie gesagt.“ Rico nickte. „Die Kollegen in Miami fanden heraus, dass Lynn Bendall schon lange nicht mehr lebte. Ich kam her, weil ich hoffte, Ms. Bendall könnte mir helfen herauszufinden, wer die junge Frau, die in Miami starb, wirklich war und woher sie diese Adresse hatte.“ Jemand stieß die Haustür so heftig auf, dass sie gegen die Wand knallte. „Ruth?“, rief eine Frau. Dann tauchte eine ältere Frau mit schwarz gefärbten Haaren in der Tür auf. Sie war ungeschminkt, trug grellpinkfarbene Gummistiefel und eine Jack Wolfskin Winterjacke. Als sie Ms. Bendall sah, die leblos zwischen den beiden Sanitätern auf dem Boden lag, riss sie mit einem entsetzten Laut die rechte Hand mit den rosa lackierten Fingernägeln an den Mund. Jay Brody reagierte sofort. Er versperrte der Frau mit seinem Körper den Blick auf Ms. Bendall und sagte: „Sie sollten sich das nicht ansehen, Heather.“ Heather nahm die Hand herunter. „Ich weiß, wer das getan hat!“, behauptete sie. „Er war blond. Um die sechzig. Schlank. Kam in einem Jeep. Ich sah ihn zufällig und er fiel mir nur auf, weil er sich suchend umsah. Wie jemand, der sicherstellen will, dass ihn niemand bemerkt. Wie jemand, der etwas zu verbergen hat.“ Rico schluckte schwer. Ein Gefühl sagte ihm, dass Sonny bereits hier gewesen war und dass eine Menge Probleme auf ihn warteten.

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ZWANZIG Sonny riss im allerletzten Moment das Steuer nach links, um an dem Wagen vorbei zu kommen. Am liebsten hätte er sich selber auf die Schulter geklopft, weil seine Nerven immer noch so hervorragend waren. Er spürte, wie der Jeep das andere Fahrzeug am Kotflügel berührte und er hörte das hässliche Kreischen von Blech auf Blech. Der Jeep rutschte weiter nach links auf eine Straßenlaterne zu, wurde durch einen Schneehaufen am Straßenrand abgebremst und auf die Straße zurückgeschoben. Aus der Heckscheibe fielen die letzten Splitter heraus. Im Wagen war es entsetzlich kalt und Sonny fror trotz des warmen Mantels. Er schaltete die Heizung an, stellte sie so ein, dass die warme Luft wenigstens auf seine Füße blies. Wieder gab Sonny Gas. Im Rückspiegel sah er, dass der andere Wagen abbremste um zu wenden. Das gab ihm Zeit seinen Vorsprung auszubauen. Sonny kniff die Lippen aufeinander und schoss die Straße entlang. Er sah einen Range Rover vor Ms. Bendalls Haus stehen, ungefähr dort, wo er zuvor geparkt hatte. Sonny hatte ein ungutes Gefühl, denn wenn Ricostas Männer auf ihn gewartet hatten, konnte man vermuten, dass auch jemand Ms. Bendall einen Besuch abstatten würde. Er fischte mit einer Hand sein Handy aus der Tasche. Das Mindeste, was er für die Frau tun konnte, war, den Notruf zu wählen und die Polizei zu ihr zu schicken. Absichtlich ignorierte er den Hinweis auf die neun Anrufe in Abwesenheit. Er hatte jetzt keine Zeit zu plaudern. Der Jeep traf einen dicken Eisklumpen, der mitten auf der Fahrbahn lag. Das Fahrzeug wurde etwas hochgeworfen und das Handy rutschte Sonny aus der Hand. Es landete im Fußraum auf der Beifahrerseite, unerreichbar für Sonny. Er fluchte, hielt aber nicht an. Noch konnte er das Verfolgerfahrzeug nicht sehen. Das bedeutete, dass sein Vorsprung gut war. Wenn er anhielt, um das Handy aufzuheben, würde er diesen Vorsprung wieder hergeben. Das konnte er nicht riskieren. Sonny bremste langsam ab, um nach rechts in die Birch Road abzubiegen, als er die rotierenden Lichter eines Schneepfluges zwischen den Häusern bemerkte. Wahrscheinlich würde es sehr eng werden, denn an den Straßenrändern türmte sich bereits der Schnee auf und ließ auf den Bürgersteigen nur einen schmalen Fußweg für Passanten frei. Aus den breiten Straßen waren längst schmale Straßen geworden, auf denen zwei Autos so gerade eben aneinander vorbeifahren konnten. Ein Schneepflug war aber entschieden breiter und Sonny entschied spontan, dass er lieber nach links abbiegen wollte. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, dass seine Verfolger immer noch nicht aufgetaucht waren. Er grinste. Was auch immer sie aufgehalten hatte kam ihm zugute. Der Wagen schlingerte leicht, als Sonny plötzlich das Steuer herumriss, aber inzwischen hatte er gelernt wie man auf dem rutschigen, weißen Zeug fahren musste. Er grinste und murmelte: „Ja, wer so lange in der Drogenfahndung tätig war wie ich weiß eben, wie man mit weißem Zeug umgehen muss!“ Er beschloss sich ab jetzt rechts zu halten. Wenn sein Orientierungssinn ihn nicht trog, dann musste er auf diese Weise unweigerlich irgendwann wieder auf der New Providence Road landen. Irgendwo weiter hinter ihm ertönten die Sirenen eines Polizei – oder Rettungsfahrzeuges. Er schielte zu dem Handy im Fußraum, dann in den Rückspiegel. Seine Verfolger blieben verschwunden. Deshalb wagte er es anzuhalten und die 911 zu wählen. „Ich möchte ein auffälliges Fahrzeug in der Hickory Lane 1829 melden,“ sagte er. „Vielen Dank, aber von dort erhielten wir bereits einen Notruf, Mr....? ,“antwortete eine freundliche Frauenstimme. „Crockett,“ erwiderte Sonny, ehe er einfach auflegte. Zehn Minuten später erreichte Sonny den Parkplatz vor dem Hickory Hill Restaurant und Motel. Der Himmel war weiterhin bleigrau. Kein Sonnenstrahl fand den Weg durch die Wolken, aus denen es unaufhörlich schneite. Der Platz vor dem Motel, der am Morgen erst freigeräumt worden war, war nun wieder mit Schnee bedeckt. Sonny stieg aus. Er schlug den Mantelkragen hoch, stopfte die Hände in die Taschen und stapfte zu seiner Unterkunft hinüber. Er fragte sich, woher Ricosta wusste, dass er in Mountainside war. Sonny erinnerte sich nicht daran, dass jemand ihn verfolgt hatte. Es wäre ihm aufgefallen und die einzige Person, die wusste, wohin er gefahren war, war Tanya Murphy! „Tanya! ,“ zischte er, als er seine Tür aufschloss. „Wende dich an Tanya Murphy. Sie wird dir weiterhelfen,“ wiederholte er Ricos Worte. Wahrscheinlich hatte sein alter Freund nicht die geringste Ahnung, dass Tanya ein Maulwurf war, aber Sonny würde das bei nächster Gelegenheit ändern. Nach einer heißen Dusche marschierte Sonny zum Restaurant hinüber. An der Rezeption saß wieder Maggie. Sonny blieb am Tresen stehen. Er wollte sie fragen, ob er um diese Zeit noch etwas warmes zu essen bekommen konnte, aber Maggie telefonierte gerade. Höflich wartete Sonny darauf, dass sie ihr Gespräch beendete. Doch während er unfreiwillig lauschte, wurde ihm plötzlich einiges klar!
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EINUNDZWANZIG Die beiden Männer wanderten durch die Natur. Sie trugen dicke, gefütterte Stiefel, Mäntel und Mützen, die Hände steckten in wasserdichten Handschuhen. Jeder hatte einen Rucksack auf dem Rücken, in dem sich eine Thermoskanne mit heißem Tee, Proviant, eine Taschenlampe, ein Messer und eine Thermodecke befanden. Eine Blechtasse war außen am Rucksack befestigt.

Weiße Atemwolken stoben aus den Mündern der beiden Männer, die bergan durch den hohen Schnee stapften. Die Äste der Bäume bogen sich unter der Schneelast. Überall knirschte und knackte es. Manchmal rutschte der Schnee einfach zu Boden und der Ast schnellte nach oben, aber hier und da brachen die Äste laut knackend ab. „Geht´s noch, Martin? ,“fragte der eine Mann irgendwann. Er war Anfang dreißig und besaß eindeutig osteuropäische Gesichtszüge. Der andere Mann schnaubte. Er war etwa doppelt so alt, sein Gesicht wies eine Menge Narben auf, die vermutlich von einer schlimmen Akne während der Pubertät stammten. „Dich stecke ich immer noch in den Sack, Marty,“ knurrte Martin. Marty lachte. „Ja, meine Mutter sagte schon, dass du ein harter Hund bist. Das hatte wohl mein Vater früher immer gesagt, wenn er von dir sprach.“ Ein großer Vogel flatterte laut schimpfend aus einem Baum auf und flog über sie weg. Die beiden Männer verstummten wieder. Martin Castillo genoss die Ruhe in dieser Gegend und auch den Schnee. Er fand die Luft frisch und rein und er begann zu verstehen, warum es Menschen gab, die Weihnachten und Schnee in einem Atemzug nannten. Die weiße Pracht hatte etwas feierliches, auch wenn es bei Sonnenschein sicher schöner ausgesehen hätte. Martin war endlich der Einladung von Marty Gretsky gefolgt, der seit einigen Jahren in Mountainside lebte und als Fotograf arbeitete. Recht erfolgreich, wie er betont hatte. Er schoss Aufnahmen aller Art, hatte sich aber vor allem auf Naturaufnahmen spezialisiert. Etliche Autoren hatten ihn bereits um bestimmte Aufnahmen gebeten, die sie in ihren Büchern verwenden wollten. Seit Jahren bat Marty den Mann, dem er seinen Vornamen verdankte, ihn zu besuchen, aber Castillo hatte immer abgelehnt. Marty war ein junger Mann, der andere Interessen hatte, aber Marty hatte nicht locker gelassen. „Komm schon,“ hatte er gesagt. „Wenn du damals nicht gewesen wärst, hätten sie meine Mutter und mich umgebracht. Es ist lange her, aber ich möchte mich endlich revanchieren. Komm über Weihnachten zu mir nach Mountainside. Ich würde mich wirklich freuen.“ Schließlich hatte Castillo nachgegeben. „Ich komme, aber nur unter der Bedingung, dass ich in einem Motel wohne.“ „Aber...,“ hatte Marty gesagt, wurde aber von Castillo unterbrochen: „Kein aber, Marty. Ich bin jemand, der spät zu Bett geht und wenig Schlaf braucht. Ich würde dich nur stören. Ich wohne in einem Motel oder ich bleibe in Miami.“ Marty hatte gelacht, dann aber nachgegeben und für Castillo im Hickory Hill Restaurant und Motel eine Unterkunft reserviert. Es war die Nummer 13, aber Castillo hatte erklärt, er wäre nicht abergläubisch. Während sie nun durch die Natur wanderten, immer auf der Jagd nach dem besonderen Motiv, dachte Castillo an den vergangenen Abend. Er war zu später Stunde noch mal vor die Tür gegangen, um die Stille der Nacht und die frische Winterluft zu genießen. Da hatte er einen Mann ankommen sehen, von dem er beinah geglaubt hätte, es wäre Sonny Crockett. Im Grunde genommen wusste er, dass das unmöglich war. Was sollte Sonny Crockett in Mountainside? Vielleicht kennt er hier auch jemanden, dachte Castillo. Die Welt ist manchmal verflixt klein. Eigentlich hatte er morgens an der Rezeption nachfragen wollen, ob jemand namens Sonny Crockett eines der Häuser bezogen hatte, aber dann war Marty früher aufgetaucht als erwartet. „Bei Sonnenaufgang kann man die besten Aufnahmen machen,“ hatte er erklärt. „Und natürlich ist wesentlich weniger los als zu späterer Stunde.“ Er hätte ihn natürlich bitten können einen Moment zu warten, damit er Ms. Elderidge nach Sonny Crockett fragen konnte, aber dann ließ er es. Es war albern zu denken, dass Sonny hier wäre. Es handelte sich wahrscheinlich um jemanden, der aus der Ferne einfach eine gewisse Ähnlichkeit mit Sonny hatte. Außerdem war es dunkel gewesen. Er hatte den Mann nur im Licht der Lampen gesehen, die den Weg zu den Häusern säumten, und der Lampe, die neben der Tür von Nummer zwölf hing. Plötzlich durchdrangen Motorengeräusche die Stille. Castillo vermutete, dass es sich um mindestens drei Fahrzeuge handelte. Marty fluchte leise. „Versteck dich lieber! ,“riet er und suchte Deckung hinter einem schneebeladenen Ilex am Wegesrand. „Verdammte Bande! ,“schimpfte er. Castillo blickte neugierig um den Ilex herum. „Wer ist das?“ „Das sind Typen, denen man besser aus dem Weg geht,“ erwiderte Marty leise. Castillo sah zwei Yamaha Venture Lite Schneemobile heranrauschen. Die Fahrer der beiden Fahrzeuge trugen Schikleidung und Helme und sie verschwanden fast vollkommen hinter dem großflächigen Windschutz, den die Maschinen boten. Die Schneemobile rauschten zwischen den Bäumen durch. Sie schienen ein Rennen gegeneinander zu fahren. Bis auf wenige Meter kamen sie an Castillo und Marty heran, ohne die Beiden jedoch zu bemerken. Marty atmete auf. „Also, wer waren die beiden? ,“wollte Castillo wissen. Kopfschüttelnd meinte Marty: „Sie sind reich, sie sind skrupellos und sie langweilen sich anscheinend oft fürchterlich. Vor wenigen Tagen wurde die Kriminalitätsstatistik für Mountainside in der Zeitung veröffentlicht. Es gab drei Überfälle und eine Brandstiftung und es gibt eine Menge Leute, die glauben, dass diese Typen etwas damit zu tun haben. Aber man kann es nicht beweisen. Außerdem hat der Papi dieser Beiden genug Kohle, um mindestens die halbe Stadt aufzukaufen.“ Marty trat hinter dem Ilex hervor. „Halten wir uns von denen fern,“ schlug er vor. Er hatte keine Ahnung, dass das unmöglich war.
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ZWEIUNDZWANZIG Rico wartete, bis Ms. Bendall auf dem Weg ins Krankenhaus war. Man konnte noch nicht sagen, wie ihre Chancen standen, aber Sheriff Brody meinte: „Wenn sie stirbt, dann ist sie das erste Mordopfer seit .... keine Ahnung wie lange.“ Er schnaubte. „Wir sind sehr stolz darauf, dass die Kriminalität in dieser Stadt stetig zurückgegangen ist. 2001 gab es noch achtundsechzig Diebstähle in Mountainside, dieses Jahr sind es bisher siebenundvierzig und es gab nur einen einzigen Raubüberfall. Das ist toll, oder?“ Rico nickte nur. Von so einer Statistik konnten andere Orte nur träumen. Jimmy Charles gesellte sich zu ihnen. „Die Fahndung nach dem Kerl, den Heather gesehen hat, ist raus. Er kann eigentlich nur ein Fremder sein, oder?“ „Warum? ,“fragte Rico. „Vielleicht war es ein junger Kerl aus dem Ort, der eigentlich etwas stehlen wollte, aber von mir gestört wurde. Ich hatte nur kurz ins Wohnzimmer geblickt und war dann in die Küche gegangen. Die anderen Räume hatte ich noch nicht untersucht, als ich Ms. Bendall hörte. Wenn der Einbrecher im Schlafzimmer war, hatte er die Gelegenheit abzuhauen, während ich den Notruf wählte und mich um Ms. Bendall kümmerte.“ „Haben Sie denn etwas gesehen? ,“ wollte Sheriff Brody wissen. Rico nickte. „Einen Jeep. Er raste die Straße entlang.“ Sheriff Brody fragte ihn, wo er wohnte. Da Rico bisher noch keine Unterkunft hatte, empfahl Brody ihm das Hickory Hill Restaurant und Motel. „Die Appartements sind gemütlich und sauber. Wenn Sie wollen, können Sie im Restaurant essen, was ich Ihnen sehr empfehle. Russel ist ein verdammt guter Koch.“ Vor der Tür reichten sie einander die Hand, Sheriff Brody gab Rico eine Visitenkarte. „Für den Fall, dass Sie etwas herausfinden, was wir auch wissen sollten,“ sagte er. Rico bedankte sich und steckte sie ein. Es war immer gut eine Anlaufstelle zu haben. Als Jimmy ihm die Hand reichte, sagte er plötzlich: „Mir fällt da gerade etwas ein. Sie sagten, die in Miami ermordete Frau hätte sich als Lynn Bendall aus Mountainside ausgegeben...“ Rico nickte. „Lynn hatte damals eine beste Freundin. Mann, die Beiden gluckten nur beisammen. Einzeln gab es die gar nicht. Sie hieß Chelsea Mallinder. Sie sahen sich so ähnlich, dass es manchmal echt schwer war sie auseinander zu halten. Vor allem, nachdem Chelsea sich die Haare dunkel färbte. Manchmal tauschten sie sogar die Namen, aber nachdem Lynn starb ging Chelsea irgendwann weg. Ich habe keine Ahnung, was aus ihr geworden ist.“ „Danke,“ sagte Rico. „Ich werde das den Kollegen in Miami weitergeben. Vielleicht hilft es ihnen bei der Identifizierung.“ Er dachte: Und hoffentlich finde ich Sonny, ehe ihr ihn findet! Sheriff Brody erklärte Rico kurz, wie er zum Hickory Hill Restaurant und Motel kam, ehe sie sich trennten. Rico stieg in den Range Rover und da die Kollegen ihn beobachteten, schaltete er sofort den Motor ein und fuhr los. Obwohl der Schneepflug erst vor ungefähr einer Stunde hier vorbei gekommen war, lag die Straße wieder voll Schnee. Im Radio lief gerade der Wetterbericht, der weitere Schneefälle voraussagte. In mehreren Orten war inzwischen der Strom ausgefallen, weil die Strommasten so vereist waren, dass sie umknickten wie Streichhölzer. Rico blickte zu den Strommasten empor, an denen er vorbeifuhr. Auch sie waren stark vereist und es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis auch Mountainside keinen Strom mehr hatte. „Das kann ja heiter werden,“ grummelte Rico. Es war fast drei Uhr nachmittags, als Rico den Wagen auf den Parkplatz des Hickory Hill Restaurant und Motel steuerte. Eine Familie lud gerade unter vielen Diskussionen und lautem Gezeter ihre Koffer und Taschen ein, um offensichtlich frühzeitig abzureisen. Die beiden Töchter, etwa im Teenageralter wirkten recht glücklich, während ihr Vater ein Gesicht machte wie eine wütende Bulldogge. Rico konnte sich gut vorstellen, dass die Mädchen sich hier gelangweilt hatten. Mountainside war ein netter, beschaulicher Ort, aber sicher nicht ideal für Mädchen, die lieber Party machen wollten. Rico stellte den Range Rover auf einen gut freigeräumten Platz unter einer Laterne ab, direkt neben den Wagen der gerade abreisenden Familie. Hier hatte anscheinend bis vor kurzem ein Fahrzeug gestanden, denn auf diesem Platz lag weniger Schnee als auf den anderen. „Du musst einsehen, dass es besser so ist,“ hörte Rico die Frau sagen. „Wenn es so weiter schneit, hängen wir vielleicht morgen oder übermorgen hier fest.“ „Wir wollten sowieso bis nach Weihnachten bleiben,“ meckerte der Mann. „Und wenn es nicht aufhört zu schneien, bleiben wir bis Ostern,“ keifte die Frau, als Rico die Tür zuschlug. Die Frau drehte sich um, musterte ihn und lächelte, ehe sie sich abwandte. Rico ging zur Rezeption hinüber. Dort verrichtete nach wie vor Maggie Elderidge ihren Dienst. Vor dem Tresen stand gerade ein Paar, das ebenfalls entschieden hatte bereits heute abzureisen. „Es tut uns auch leid, aber wir befürchten, dass wir in drei Tagen nicht mehr hier weg kommen,“ sagte der Mann bedauernd. Maggie nickte. „Ich verstehe das. So schlimm wie im Moment war es auch lange nicht.“ Wenig später verließ das Paar das Gebäude und Maggie schenkte Rico ihre volle Aufmerksamkeit. „Was kann ich für Sie tun, Mr....?“ „Tubbs,“ antwortete Rico. „Zum einen möchte ich ein Zimmer mieten und zum anderen hätte ich eine Frage. Ein Freund von mir wollte nach Mountainside kommen, aber leider haben wir nicht abgesprochen, in welchem Motel wir uns treffen. Sein Name ist Sonny Crockett. Er wohnt nicht zufällig hier bei Ihnen?“ Maggie strahlte ihn an, während sie ihm den obligatorischen Bogen zum ausfüllen zuschob. „Doch, Mr. Crockett wohnt hier. Er hat Nummer zwölf. Wenn Sie noch einen Moment Geduld haben, damit meine Tochter Liz das Appartement wieder herrichten kann, gebe ich Ihnen Nummer zehn. Die Mieter sind nämlich gerade abgereist.“ Rico lächelte sie freundlich an, füllte dann den Bogen aus. „Ja, das wäre großartig.“ Wenig später eilte er den Weg entlang zu den Reihenappartements und klopfte an die Tür von Nummer zwölf, aber Sonny war nicht zu Hause.
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DREIUNDZWANZIGDonnerstag, gegen 14:30hDer Moment der Erkenntnis kam so plötzlich, als wenn jemand in vollkommener Dunkelheit einen Lichtschalter betätigte, oder einen Vorhang zur Seite zog. Er lauschte Maggies freundlichen, fast unterwürfigen Worten mit denen sie Manuel Ricosta versicherte, er könnte heute Abend den kleinen Speisesaal für sich allein haben.„Sieben Uhr. Es wird alles gerichtet sein,“ sagte Maggie und setzte ein so ernstes Gesicht auf, als stünde Ricosta vor ihr, um die Reservierung persönlich vorzunehmen.„Ricosta? ,“fragte Sonny, nachdem Maggie das Gespräch beendete.„Ja. Kennen Sie ihn?“Sonny zog seine Mundwinkel nach unten. Er war sicher, dass Maggie ihm einiges erzählen würde, wenn er es geschickt anstellte. – und Sonny war gut darin Leute zum Reden zu bringen. Schließlich war es seit sehr langer Zeit Teil seines Jobs.Jetzt lehnte er sich lässig gegen den Tresen und antwortete: „Flüchtig. Mr. Ricosta hat einige Geschäftspartner in Miami, die mir ebenfalls bekannt sind.“Maggie nickte. „Mr. Ricosta macht, glaube ich, sehr viele Geschäfte im ganzen Land. Er ist stinkreich, wie man so schön sagt. Hat gleich hinter dem Watchung Reservat ein riesiges Areal gekauft, sich eine pompöse Villa bauen lassen und residiert dort von Zeit zu Zeit. Na ja, wer viel arbeitet, der braucht auch Orte, an denen er sich entspannen kann, richtig?“Sonny nickte, als hätte er vollstes Verständnis dafür, dass sich ein Verbrecher wie Ricosta, der wahrscheinlich seine Finger in mehr dreckigen Geschäften hatte, als Maggie und er zusammen Finger an den Händen besaßen, dringend von seiner anstrengenden Arbeit erholen musste. Sonny kannte allerdings einen Ort, an dem er Ricosta lieber gesehen hätte. Dort könnte er sich, wenn es nach Sonny ging, für den Rest seines Lebens erholen. – Falls man im Knast von so etwas reden konnte.„Im Moment ist er also hier,“ meinte Sonny. „Ich hätte darauf wetten können, dass einer wie Ricosta den Winter unten im Süden verbringt.“Maggie legte die Unterarme auf den Tresen und sah Sonny treuherzig an. „Ich könnte mir schon vorstellen, dass er das lieber tun würde, aber er hat zwei Kinder und die lieben den Schnee.“Sonny gab sich sehr interessiert. „Kinder?“Maggie nickte. Sie merkte überhaupt nicht, dass Sonny sie aushorchte, sondern freute sich darüber mit ihm plaudern zu können.Als Sonny wenig später das Gebäude verließ wusste er, dass Ricosta zwei Kinder hatte, die Erin und Zach hießen. Maggie hatte jedoch hinzugefügt, dass Erin und Zach nicht gerade beliebt waren. Sie machten nur Unsinn und wurden nie zur Rechenschaft gezogen, weil Papi immer alles gerade bog.Sonny stieg in den Jeep. Er wollte sehen, wo der Kerl wohnte, der Lynn – oder besser gesagt Chelsea – ermordet hatte, der, ohne mit der Wimper zu zucken, seine Kanone auf sie gerichtet und abgedrückt hatte. Irgendwie würde er Ricosta in die Finger kriegen und dann würde der Dreckskerl ihm sagen, warum er Chelsea getötet hatte.Nachdem Sonny das Navigationsgerät programmiert hatte fuhr er los. Der Weg führte aus Mountainside heraus, vorbei an Siedlungen mit hübschen Einfamilienhäusern. Hier und da sah er Kinder, die Schneemänner bauten und Leute, die ihre Einfahrten frei schaufelten. – Ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen.Die Straßen waren hingegen recht gut geräumt. Außerdem hatte Sonny sich inzwischen an das Fahren auf schneeglattem Untergrund gewöhnt.Er folgte der Stimme des Navigationssystems bis zum Watchung Reservat, umrundete es dann aber in einem Bogen.Als er eine Nebenstraße erreichte, hörte er plötzlich Motoren aufheulen. Das Geräusch kam eindeutig von links, wo es keine Straße gab. Automatisch bremste er ab, den Blick immer wieder nach links richtend, wo zwischen den Bäumen zwei Schneemobile auftauchten. Der Fahrer des ersten Schneemobils drückte auf die Hupe, um eventuell herannahende Fahrzeuge zu warnen, ehe er, gefolgt von dem zweiten Schneemobil, ohne das Tempo zurückzunehmen, über die Straße schoss. Auf der anderen Seite verschwanden sie im Wald.Sonny blickte ihnen nach, schüttelte den Kopf und fuhr weiter. Er entdeckte einen Nebenweg, der nicht geräumt war, aber Sonny hielt seine Fahrkünste inzwischen für gut genug, um mit einem allradgetriebenen Fahrzeug diese kleine Herausforderung zu meistern. Er bog ab und der Wald nahm ihn auf. Hier war es fast stockfinster. Immer wieder rauschte Schnee von den Ästen herab, landete vor ihm auf dem Weg oder auf dem Wagen. Die Scheibenwischer rotierten permanent.Sonny hörte ein lautes knirschen, knacken und krachen. Als er in den Rückspiegel sah, bemerkte er, dass ein Baum hinter ihm sich neigte und quer über den Weg stürzte.„Hierher fahre ich also nicht zurück zum Motel,“ murmelte er.Im gleichen Moment sah er wie ein Baum rechts von ihm sich rasend schnell zur Seite neigte, genau auf seinen Jeep zu.

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VIERUNDZWANZIGRico schaltete das Licht ein und stellte seinen Koffer unausgepackt in den Schrank. Er hoffte, dass die Geschichte hier in ein bis zwei Tagen vorbei war und er sich nicht allzu häuslich einrichten musste.Das Handy klingelte und als er einen Blick auf das Display warf stellte er fest, dass es Suzys Nummer war. Da er gerade nichts anderes zu tun hatte, konnte er sich ihr ebenso gut stellen. Die beiden anderen Anrufe von ihr hatte er schließlich ignoriert.„Hallo, Suzy,“ sagte er und machte es sich auf dem Bett bequem.„Du erinnerst dich also tatsächlich daran wie man ein Handy benutzt, Ricardo,“ erwiderte Suzy sarkastisch. So nannte sie ihn immer nur, wenn sie sehr wütend war.„Ich war unterwegs, Suzy. Die Straßen waren glatt und es schneite...!“„Das weiß ich, Ricardo, aber darum geht es nicht. Was, zum Teufel, fällt dir ein unsere Kinder einfach in L.A. bei Paula zu lassen? Du hast ihnen diese Ferien versprochen! Du weißt genau, dass Paula es nicht so sehr mit Kindern hat und jetzt lässt du sie mit Alaina und Dylan allein, weil.... – WARUM, Ricardo?“Rico seufzte. „Sonny ist hier. Man hat vor etwas mehr als einer Woche vor seinen Augen seine Freundin erschossen und der Mörder ist nach New York geflohen.“Das Licht begann zu flackern und Rico warf einen besorgten Blick zur Decke.Suzy hatte Sonny nie kennen gelernt, aber Alaina mochte ihn. Sie hatte, nachdem sie endlich aus dem Krankenhaus in Miami entlassen worden war, sehr oft von Sonny und Billy und den anderen erzählt.„Das tut mir leid,“ sagte Suzy aufrichtig. „Aber es erklärt immer noch nicht, warum du in L.A. alles stehen und liegen gelassen hast.“„Sonny ist nach Mountainside gefahren und niemand kann ihn mehr erreichen. Ich mache mir Sorgen um ihn, Suzy, und ich weiß, dass Sonny, ginge es um mich, ebenfalls sofort losgefahren wäre. Es tut mir leid um die Ferien, aber Alaina und Dylan sind keine kleinen Kinder.“Suzy schnaubte verächtlich. „Weißt du, Ricardo,“ sagte sie. „Du hast nie verstanden, dass das Leben nicht nur aus dem Job besteht.“ Dann legte sie einfach auf.Rico seufzte. Suzy hatte nicht unrecht. Der Hauptgrund, warum ihre Ehe nicht funktioniert hatte, war, dass er nie Zeit hatte. Der Job forderte stets seine ganze Aufmerksamkeit. Was er anfing, wollte er Tausendprozentig erledigen... – nur bei seiner Ehe hatte das eben nicht geklappt.Rico verscheuchte die Gedanken an Suzy und wandte sich wieder Sonny zu. Wohin mochte er gefahren sein? Und wann?In Gedanken versuchte Rico sich vorzustellen, wie Sonnys Tag verlaufen sein mochte. Er war vermutlich gegen Mittag zu Ms. Bendall gefahren. Bei genauerer Untersuchung der Wohnung hatte Rico zwei benutzte Tassen in der Spüle gefunden. Die Reste darin schienen noch frisch zu sein.Außerdem hatte auf der Anrichte eine Thermoskanne gestanden, deren Inhalt noch sehr heiß war.Deshalb ging Rico davon aus, dass Sonny gegen Mittag bei Ms. Bendall auftauchte. Sie bat ihn herein, kochte Kaffee und die Beiden redeten. Wahrscheinlich erzählte Ms. Bendall Sonny von Chelsea Mallinder und nannte auch die Adresse ihrer Eltern. War Sonny von Ms. Bendalls Haus aus direkt zu den Mallinders gefahren?Rico sprang auf. Im gleichen Moment verlosch das Licht. „Großartig,“ murmelte er, aber da er ohnehin vorhatte zur Rezeption zu gehen, konnte er dort gleich die defekte Glühlampe melden.Er zog seine Jacke wieder an und eilte hinaus. Der Himmel spuckte immer noch Schneeflocken aus und vor dem Restaurant bemühte sich eine vermummte Gestalt auf einem Aufsitzmäher mit einem vorgebauten Schneeschild darum den Platz vor dem Gebäude, die Parkplätze und den Weg zu den Holzhäusern schneefrei zu halten. Rico bemerkte, dass auch die Lampen am Parkplatz und die Leuchtreklame über dem Restaurantgebäude nicht funktionierten.Maggie Elderidge hatte gerade den Platz hinter dem Tresen verlassen und befand sich auf dem Weg zur Tür. Hinter dem Tresen saß jetzt ihre Tochter Abby.„Oh, Mr. Tubbs,“ sagte Maggie. „Machen Sie sich keine Sorgen wegen des Lichts. Ich war gerade unterwegs, um es allen Gästen zu sagen. Die Stromversorgung ist zusammengebrochen, aber wir besitzen einen Stromaggregator und bald wird es wieder hell.“Rico lächelte. „Und ich dachte, es wäre nur die Glühlampe, aber ich möchte Sie etwas anderes fragen. Können Sie mir sagen, wann Sie Mr. Crockett zuletzt gesehen haben? Ich habe an seine Tür geklopft, aber er ist nicht da.“Maggie nickte. „Natürlich. Das war gegen halb drei. Er kam herein, während ich mit Mr. Ricosta wegen seiner Reservierung heute Abend sprach.“In diesem Moment wurde Rico klar, dass Sonny nicht unterwegs war, um der Familie Mallinder sein Beileid auszusprechen. Er wollte Ricosta einen Besuch abstatten!Das war keine gute Idee!Er setzte sein gewinnendstes Lächeln auf und sagte: „Ich wusste ja gar nicht, dass Mr. Ricosta hierher kommt.“Maggie straffte sich. Offensichtlich war sie sehr stolz darauf, dass ein so vermögender und einflussreicher Mann wie Mr. Ricosta in ihrem Restaurant zu Abend essen wollte. „Wir führen eben eine hervorragende Küche, Mr. Tubbs.“„Dann hoffe ich nur, dass Mr. Ricosta es nicht allzu weit hat, denn bei diesem Wetter jagt man eigentlich nicht mal einen räudigen Hund vor die Tür.“Maggie gab einen kleinen, verwunderten Laut von sich. „Es ist schon seltsam, aber Mr. Crockett erkundigte sich ebenfalls danach, wo Mr. Ricosta wohnt.“Drei Minuten später verließ Rico mit langen Schritten das Gebäude. Er wusste jetzt, wo er Sonny zu suchen hatte. Nachdem er in den Wagen sprang, stöpselte er das Head – Set in sein rechtes Ohr und wählte Tanyas Nummer an.123„Was können Sie mir an Informationen über Manuel Ricosta geben? ,“kam er ohne Umschweife zur Sache.„Tja,“ murmelte Tanya.Rico setzte den Wagen zurück, wobei er darauf achten musste die eingemummte Gestalt auf dem Mäher mit dem Schneeschild nicht über den Haufen zu fahren. Der Mann trug dicke Ohrenschützer, die alle Geräusche ziemlich dämpften.Tanya hatte anscheinend alle Infos aufgerufen, die es über Ricosta im Internet gab. „Er ist ein Geschäftsmann, der in allen möglichen Sparten tätig ist. Er besitzt einige Clubs, hat drüben in Manhattan mehrere Häuser, deren Appartements er vermietet. Dann sehe ich gerade, dass ihm die Boutiquekette Naughty Girls gehört. Meine kleine Schwester ist ganz verrückt nach den Klamotten aus dieser Boutique, die auch Mode zu erschwinglichen Preisen anbietet. Außerdem importiert er Kaffee und Tee und er besitzt mehrere Immobilien im In – und Ausland, die er selber wechselweise bewohnt.“Rico hatte inzwischen das Motelgelände verlassen und fuhr die New Providence Road entlang Richtung Park Slope, während er Tanyas Ausführungen lauschte.„Und eine Immobilie besitzt er unweit von Mountainside,“ sagte Rico. „Sonny ist dorthin unterwegs. Könnten Sie versuchen seinen derzeitigen Standort für mich über sein Handy zu orten?“„Sicher,“ erwiderte Tanya.Rico nannte ihr Sonnys Handynummer. Während er Richtung Watchung Reservat fuhr wartete er darauf, dass Tanya ihm sagte, wo Sonny sich gerade aufhielt.„Ich habe ihn,“ sagte Tanya schließlich, verstummte dann für einen Moment.„Ja? ,“fragte Rico ungeduldig.„Irgendwas stimmt da nicht,“ meinte Tanya. „Der Karte nach befindet er sich mitten im Wald, aber er rührt sich nicht von der Stelle.“

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FÜNFUNDZWANZIGMarty schoss etliche Naturaufnahmen, fing auch einige große Vögel mit der Kamera ein, während Castillo einfach nur die Ruhe genoss. Marty hingegen hatte oft gelauscht.„Wenn diese Typen wieder auftauchen, will ich mich früh genug unsichtbar machen,“ sagte er, als sie am Nachmittag eine weitere Pause einlegten. Sie hatten einen der Picknicktische vom Schnee befreit und ihre Kannen, den Proviant und die Tassen darauf abgestellt. Nach dieser Pause wollten sie den Rückweg antreten, um vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause beziehungsweise im Motel zu sein.„Aber wer sind diese Typen? ,“wollte Castillo erneut wissen. Er war zu lange Polizist gewesen, um sich mit einer nichtssagenden Antwort abspeisen zu lassen.Marty schnaubte. Weiße Wölkchen stoben aus seiner Nase. „Erin und Zach Ricosta. Sie sind zwischen sechzehn und zwanzig. Genau weiß ich es nicht,“ sagte er dann. „Reiche Bälger, die von Papi den Zucker in den Hintern geblasen kriegen. Und wenn sie was anstellen, dann hat Papi genug Anwälte, die es schaffen nachzuweisen, dass der entsprechende Ricosta – Sprössling zur fraglichen Zeit gar nicht am Tatort gewesen sein kann.“Castillo trank langsam seinen heißen Tee. Solche Typen hatte er auch zur Genüge kennen gelernt und mehr als einmal entkamen sie den Mühlen der Justiz, weil sie die richtigen Kontakte hatte. Manche Dinge änderten sich eben nie.Plötzlich ertönten Motorengeräusche, die sich schnell näherten. Marty fluchte und begann alle Dinge, die er zuvor aus seinem Rucksack genommen hatte, eiligst wieder hineinzustopfen. „Du solltest deine Sachen auch verstauen, Martin,“ riet er.Castillo stand unbewegt da und ließ den Blick herumschweifen. „Ich laufe nicht vor Kindern davon.“Er sah sie kommen. Die beiden Schneemobile tauchten zwischen den Bäumen auf. Für den Bruchteil einer Sekunde nahm der Fahrer des vorderen Schneemobils Gas weg. Es war der Moment, in dem er die beiden Männer sah.„Martin, wir sollten nicht die Helden spielen,“ warnte Marty.„Ich spiele nicht den Helden, ich lehre diese Beiden nur Respekt vor Älteren zu haben,“ erwiderte Castillo.Der Fahrer des ersten Schneemobils gab Gas, der zweite Fahrer, der Figur nach eine Fahrerin und demnach dann Erin, zog mit. Sie rasten auf Castillo und Marty zu, rissen kurz vorher jedoch den Lenker herum. Sie rauschten haarscharf an den beiden Männern vorbei, die eine ordentliche Fuhre Schnee abbekamen.Wenige Meter weiter wendeten sie und kamen zurück.Castillo stand vollkommen unbewegt da. Nur seine Augen verfolgten jede Bewegung. Wieder bekamen er und Marty eine Ladung Schnee ab. Marty fluchte.Beim dritten Mal reagierte Castillo blitzschnell. Er federte im rechten Moment ab, sprang den Fahrer des ersten Schneemobils, Zach, an und stieß ihn von seinem Fahrzeug. Erin musste daraufhin einen Haken schlagen, um nicht die beiden am Boden liegenden zu erwischen. Sie geriet in eine Senke, verlor die Kontrolle und überschlug sich.Marty heulte auf. Wenn Erin etwas passierte, machte Ricosta Hackfleisch aus ihnen beiden.Castillo kniete auf Zach und riss ihm den Helm herunter. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Erin aufstand. Sie hatte also Glück gehabt.Wutentbrannt funkelte Zach ihn. Er hatte das schmale Gesicht und die harten Augen seines Vaters geerbt.„Wer bist du, alter Mann, dass du dich traust mich anzugreifen? ,“fauchte er.„Und wer bist du, Grünschnabel, dass du dich wagst mich zu belästigen? ,“ knurrte Castillo.Zach versuchte ihm das Knie in den Rücken zu jagen, aber er kam nicht dran.Castillo packte ihn am Hals. Seine Lippen wurden zu schmalen Strichen, die Augen zu Schlitzen, während sich Zachs Augen immer mehr weiteten. „Ich bin der Falsche für deine Spiele, Jungchen. Da, wo ich herkomme, schnitt man Typen wie dich in Stücke und verfütterte sie an die Ratten.“Er ließ kurz den Blick schweifen. Erin hob gerade mühsam ihr Schneemobil auf, wobei sie immer wieder zu ihrem Bruder herübersah.„Ich wette, es gibt hier Ratten,“ sagte Castillo und drückte noch ein bisschen fester zu. Nicht, dass er Zach umbringen wollte, aber der Bengel sollte spüren, dass Castillo es ernst meinte.„Bitte...! ,“ quetschte Zach in Todesangst hervor. Er bekam keine Luft mehr. „Oh, Gott...!“Mit einem letzten, beinah angewiderten Gesichtsausdruck erhob sich Castillo. Er blickte auf Zach hinunter, der mit der Hand seinen Hals abtastete, als könnte er nicht glauben, dass er am Leben war.„Hau ab, Freundchen! ,“grummelte Castillo.Zach sprang auf. Er stülpte sich in Windeseile den Helm über den Kopf, während er zu seinem Schneemobil rannte. Er hob es auf, setzte sich darauf und schrie: „Du bist tot, alter Mann!“ Dann ließ er den Motor aufheulen, ehe er davonraste.Marty holte tief Luft. „Jetzt hast du dir einen gefährlichen Feind geschaffen, Martin,“ sagte er.Castillos Blick folgte den beiden Schneemobilen. Dann sagte er: „Ich habe mein Leben lang nichts anderes getan. Gehen wir!“

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